Menschengemachte Wildnis: Neue alte Lebensräume für Europa
Menschengemachte Wildnis: Neue alte Lebensräume für Europa
Immer mehr ursprüngliche, aber zugleich wirtschaftlich nutzbare Natur will ein Verein von Umweltschützern in ganz Europa schaffen. „Rewildling“ heißt das Konzept, nach dem jetzt auch der Unterlauf der Oder renaturiert werden soll.
In vielen Landstrichen Europas setzen Umweltschützer auf mehr Wildnis, um den Artenschutz anzukurbeln und den Klimawandel zu bremsen. Das Konzept funktioniert auch am Stettiner Haff.
Artur Furdyna, Hydrobiologe bei dem Verein „Rewilding Oder-Delta“, stapft durch eine Flusslandschaft im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Mit einer sogenannten Fischereibrille, die die Blendung auf der Wasseroberfläche reduziert, schaut er unter die Oberfläche der Gowienica und entdeckt in der Mitte des Flusses Kies, den er und sein Team hineingeschüttet haben, um den Wasserstand zu erhöhen. Einst wurde die Gowienica als Wasserstraße genutzt, um Baumstämme für die Holzwirtschaft zu transportieren, der Fluss wurde dafür begradigt und aus seinem Bett wurden Steine entfernt. Dadurch nahm der Wasserpegel ab, doch nun tritt die Gowienica wieder über die Ufer und nach den letzten Regenfällen stehen moosbewachsene Bäume jetzt mitten im Wasser. Die Flächen links und rechts des Flusses nehmen deutlich mehr Feuchtigkeit auf als vorher. Das beugt Dürreperioden vor und schützt vor Überflutungen. Außerdem speichert die Landschaft durch Bodenbildung und Pflanzenwachstum auch zusätzliches Kohlendioxid. Das ist gut fürs Klima. Auf einer Fläche von 450 000 Hektar rund um das Stettiner Haff nehmen Furdyna und andere Teammitglieder kleine Eingriffe wie diese Kiesschüttung vor, damit sich die Landschaft in eine artenreiche und widerstandsfähige Natur zurückverwandelt.
„Rewilding“ heißt das Konzept. So wie im deutsch-polnischen „Oder-Delta“, also der Region rund um das Stettiner Haff, engagieren sich neun weitere Projekte in Spanien, Portugal, Rumänien, Bulgarien, Italien, Schweden, Kroatien, der Ukraine und Schottland dafür, dass sich die Natur erholen kann. „Der Verein Rewilding Europe dient uns dabei als eine Art Netzwerk“, erläutert Peter Torkler, einer der Teamleiter. „Immer mehr Gebiete schließen sich unserer Rewilding-Bewegung an.“ Das Ziel: europaweit mehr Wildnis herstellen. Doch anders als in streng geschützten Wildnisgebieten, in denen der Mensch nicht wirtschaften darf und die in Deutschland nach Schätzungen rund 0,6 Prozent der Landfläche ausmachen, ermöglicht Rewilding eine naturnahe Bewirtschaftung auf einigen Flächen. „In Sachen Wildnis liegen wir am Oder-Delta auf einer Skala von null bis zehn im Moment bei sechs, wobei „zehn“ Wildnis ist“, erklärt Torkler. „Wenn wir in den nächsten zehn Jahren auf acht kommen, haben wir schon viel erreicht.“
Aus der Ferne rufen Kraniche. Sie lassen sich gern dort nieder, wo die Natur in Ruhe gelassen wird. Allerdings hat der Mensch die Landschaft rund um die Gowienica jahrzehntelang verändert und beispielsweise Landwirtschaft betrieben. „Das führte dazu, dass Pestizide von den Feldern den Fluss verschmutzten“, erläutert Artur Furdyna, der sich seit Jahrzehnten bei zahlreichen Umweltprojekten in der Region engagiert und jetzt Vorstandsmitglied bei Rewilding Oder-Delta ist. „Vor zwanzig Jahren führten wir die ersten Kiesschüttungen durch“, erläutert er. Damals waren die Fische aus dem Fluss verschwunden. Jetzt sind sie alle wieder da: „Lachs, Groppe, Äsche, Forelle, Bach- und Flussneunauge,“ zählt der Experte auf. Die Kiesbank trägt dazu bei, das Wasser zu reinigen, erläutert er. Außerdem nutzt beispielsweise der Lachs den Kies zum Laichen. Seine Eier sitzen in den Lücken zwischen den Steinen und werden mit frischem Wasser und Sauerstoff versorgt. Das saubere Wasser der Gowienica hilft auch der Oder: Von dem großen Fischsterben im Sommer 2022 hat sie sich längst noch nicht erholt. Damals kurbelten Abwässer aus Bergwerken, extreme Hitze und Niedrigwasser das Wachstum der für Fische, Muscheln und Schnecken giftigen Goldalge an. Die Fischpopulationen sind noch geschwächt. Umso wichtiger, dass sie in die sauberen Nebenflüsse wie die Gowienica ausweichen können.
An diesem Tag führt das Team von „Rewilding Oder-Delta“ Mitarbeitende deutscher und polnischer Umweltämter durch die Flusslandschaft. Die Gruppe muss sich bücken, um vorwärtszukommen, so tief hängen hier die Zweige. Das Rewilding-Team möchten vorführen, welche guten Effekte es mit einfachen Maßnahmen erzielt. Außerdem müssen Behördenmitarbeitende wissen, wovon die Rede ist, wenn es darum geht, Genehmigungen zu erteilen. Die sind häufig nötig, auch wenn das Team vorsichtig arbeitet, wie Artur Furdyna betont: „Die Effekte lassen sich nicht immer vorhersagen. Die Natur ist komplex. Deshalb ist es wichtig, beim Rewilding langsam vorzugehen und genau zu beobachten.“ Zunächst war die Gruppe an der Gowienica, jetzt schaut sie am Fluss Ina übers Ufer und entdeckt Gänsesäger im Schilf. Die Männchen sind weiß, mit einem dunkelgrünen, fast schwarz wirkenden Kopf. Die Weibchen sind grau, ihr Kopf ist rotbräunlich. Die Bestände des Brutvogels sind gefährdet, doch an renaturierten Flüssen wie der Ina erholen sie sich. Im Juni und Juli 2024 hat das Rewilding-Team von zwei Bächen, die in den Fluss münden, Wehre entfernt. Jetzt können Fische wieder flussauf- und -abwandern. Das fördert die Artenvielfalt. Das Team rechnet damit, dass sich vermehrt Seeadler, Eisvogel und Gebirgsstelze ansiedeln. Die Fachleute rechnen auch mit einer Zunahme von Otter, Fuchs und Wolf.
Auf der deutschen Seite des Gebiets von Rewilding Oder-Delta liegt ein trockengelegtes Moor. Doch „Moor muss nass“, sagen Umweltwissenschaftler gern und meinen damit, dass es wieder vernässt werden muss, denn nur so bleibt es als unersetzlicher Lebensraum erhalten und vermeidet die Freisetzung von Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt. Doch wenn Landwirtin Kühner, Leiterin der Höfegemeinschaft Pommern, ihre Moorflächen vollständig wieder vernässen würde, könnte sie ihre Rinder dort nicht mehr weiden lassen und müsste mit finanziellen Einbußen rechnen. Rewilding funktioniert aber nur, wenn sich Menschen wie Heike Kühner beteiligen. Dafür sind Konzepte nötig, bei denen der Schutz und der wirtschaftliche Nutzen von Natur Hand in Hand gehen. In Zusammenarbeit mit Nancy Wolf, der Gewässerspezialistin, hat die Landwirtin solch ein Konzept entworfen. Sie plant, in dem Boden einer Wiese etwas höhere Wasserstände von zirka 30 Zentimeter unter Flur (also unter der Oberfläche) zuzulassen. Davon würde nicht nur die Natur, sondern auch Kühners Hof profitieren: „Auf der Fläche könnte ich dann zweimal im Jahr Gras für die Kühe schneiden, anstatt wie jetzt nur einmal“, erläutert sie, „denn so würden wir den Wassermangel, der die Produktion gefährdet und uns als Landwirte stresst, reduzieren.“
Auch von anderen Landwirten hat das Team positive Rückmeldung zu Rewilding-Ideen erhalten, sagt Nancy Wolf. Die Fachleute planen nun, die Flüsse Peene, Uecker und Randow auf deutscher Seite des Gebiets zu renaturieren. Die polnische Landschaft rund um die Flüsse Gowienica und Ina steht dabei Modell.