Ein bisschen mehr Nase

Ein bisschen mehr Nase”

Interview mit Sissel Tolaas

(Eine gekürzte Version ist erschienen in der Zeitschrift Werde von Weleda)

 

Sissel Tolaas hat sich der Erforschung von Gerüchen verschrieben. Das Interesse an ihrer Arbeit ist groß: Zu den Auftraggebern der Norwegerin zählen Cartier, Louis Vuitton und Estee Lauder genauso wie das Raumfahrtunternehmen Virgin Galactic, die Harvard-Universität und Kindergärten.

Welche Welt sich demjenigen offenbart, der zu riechen gelernt hat, untersucht die Forscherin, die neben Chemie auch bildende Kunst und Linguistik studiert hat, vor allem an sich selbst. Um das Potenzial ihres Geruchssinnes auszuschöpfen, geht sie regelmäßig joggen und schnuppert anschließend an den Fläschchen in ihrem Labor, in dem sie etwa 8000 Gerüche aufbewahrt.

Damit sie sich diesem Training täglich unterziehen kann, ist der Alltag der Geruchsforscherin gut organisiert – auch am Tag des Interviews, an dem sie in ihrer Altbau-Wohnung in Berlin Wimersdorf empfängt, war sie schon eine Runde Laufen und erschnupperte anschließend ein paar Duftproben.

 

Werde: Wonach riecht es hier?

 

Tolaas: Nach meinem Labor. Es ist hier im Nebenzimmer untergebracht.

 

Werde: Welche Gerüche haben Sie archiviert?

 

Tolaas: Zum Beispiel Körperschweiß, der riecht sehr interessant, und viele Gerüche von Städten wie Berlin, Kansas City und Tokyo. Mich interessieren die realen Gerüche. Also die Gerüche, die sowieso in unserer Umwelt vorhanden sind und nicht erst synthetisch erzeugt werden. Zur Zeit arbeite ich zum Beispiel mit verschiedenen Erd- und Grasgerüchen.

 

Werde: Sie fangen Gerüche ein und analysieren ihre Bestandteile. Wie machen Sie das?

 

Tolaas: Ich benutze ein kleines Gerät mit einem Schlauch, in dem sich ein Filter befindet, der die Duftmoleküle einfängt. Diese Moleküle analysiere ich.

 

Werde: Zu welchem Zweck?

 

Tolaas: Wir neigen dazu, Gerüche zu überdecken. Wir wissen kaum noch, wie wir selber riechen. Wir benutzen Deos und parfümieren unsere Räume. Meine Forschung soll nun Argumente liefern für die realen Gerüche. Sie haben ihre Berechtigung.

 

Werde: Der Körpergeruch ist für die Partnerwahl von Bedeutung. Und das Neugeborene erkennt seine Mutter am Geruch.

 

Tolaas: Ja genau. Der Geruchssinn ist bei der Geburt schon voll entfaltet – alle anderen Sinne sind es nicht. Darüberhinaus ist der Geruchssinn entwicklungsgeschichtlich unser ältester Sinn. Er birgt ein unglaubliches Potenzial, das Tiere ganz bewusst nutzen: Der Hund nimmt seine Fährte schnüffelnd auf, die Augen bestätigen dann nur, was die Nase schon weiß. Beim Menschen läuft das Riechen unbewusst ab, nebenbei.

 

Werde: Bitte erklären Sie schematisch, wie wir Gerüche wahrnehmen.

 

Tolaas: Der Geruchssinn ist der direkteste menschliche Sinn. Die Signale aller anderen Sinne treffen zunächst auf die Großhirnrinde des Gehirns und werden dann weiter verarbeitet. Sie werden quasi erst gefiltert, während die Signale der Nase direkt ins limbische System gelangen. In dieser Hirnregion werden auch Gefühle und Erinnerungen verarbeitet. Somit ist der Geruchssinn stark an Stimmungen, Sympathien und Antipathien gekoppelt. Damit erklärt sich auch, warum manche Gerüche blitzschnell starke Gefühle in Bezug auf vergangene Ereignisse oder bestimmte Personen hervorrufen können.

Und darüberhinaus: Unsere Urahnen entschieden anhand von Gerüchen, ob Gefahr drohte und sie fliehen mussten. Sie waren darauf angewiesen, sehr plötzlich zu entscheiden.

 

Werde: Der Geruchssinn hatte also mal einen evolutionären Vorteil.

 

Tolaas: Ja. Für den Erwachsenen heute spielt die Nase nur noch eine untergeordnete Rolle. Wir nutzen gerade einmal 20 Prozent der erstaunlichen Informationen, die sich über Gerüche mitteilen. Wir sind zu sehr auf unsere Augen fixiert.

 

Werde: Wie sind Sie darauf gekommen, sich mehr der Nase zu widmen und Gerüche zu erforschen?

 

Tolaas: Ich fragte mich: Was kann ich machen, um das Leben besser zu verstehen? Es erschien mir ganz klar, dass ich bei der Wahrnehmung anfangen muss. Das Schöne dabei: Alle unsere Sinne stehen uns gratis zur Verfügung.

Hauptsächlich die Augen zu nutzen ist eine ungeheuerliche Einschränkung. Ich bin Chemikerin, und in der Chemie hat man sehr viel mit Gerüchen zu tun. Da bot es sich an, die Nase zu fördern.

 

Werde: Wie haben Sie das Riechen trainiert?

 

Tolaas: Ich habe einfach gerochen. Also bewusst an Menschen, Pflanzen und Gegenständen geschnüffelt. Mein Ziel dabei war, Gerüche neutral wahrzunehmen, dass heißt, ohne sie in gute oder schlechte zu unterteilen. Das ist mir gelungen, aber ich habe sieben Jahre dafür gebraucht. Heute bereitet mir selbst Verwesungsgeruch keine Übelkeit mehr.

 

Werde: Was haben Sie dadurch gewonnen?

 

Tolaas: Ich muss etwas ausholen: Die Wahrnehmung von Gerüchen ist sehr stark mit der Vergangenheit verknüpft. Empfindest du die Situation, in der du zum ersten Mal einen bestimmten Geruch wahrnimmst, als positiv, wirst du auch den Geruch als angenehm empfinden, in einem als negativ empfundenen Moment hingegen als unangenehm. Die Bindung von Gerüchen an die Vergangenheit ist so stark, dass du als Erwachsener neue Gerüche oft gar nicht bemerkst, weil dir der Bezugspunkt fehlt. Das alles läuft unbewusst ab. Bewusstes Riechen ermöglicht dir aber, deinen Geruchssinn zu schulen und seine Kapazitäten zu erweitern. Es ist Chemie: Geruch besteht aus Molekülen. Lass die Emotionen außen vor!

 

Werde: Welchen Sinn ergibt das?

 

Tolaas: Ich sage nicht, dass es allgemein sinnvoll wäre, emotionslos zu riechen. Nur wenn man so wie ich Gerüche erforscht, ist das wichtig. Ein bisschen mehr Nase täte aber wirklich jedem gut. Man muss sich nur mal vergegenwärtigen, dass der Körpergeruch jedes Menschen einzigartig ist, so wie sein Fingerabdruck – aber nur, wenn wir ihn nicht mit Deodorant überlagern. Wenn wir diese Einzigartigkeit zulassen und als solche wahrnehmen, fördert das die Toleranz.

Die Nase kann auch darüberhinaus unser Leben bereichern: Riechen ist Kommunikation.

 

Werde: Geben Sie bitte ein Beispiel.

 

Tolaas: Ein Mensch, der nicht parfümiert ist, teilt seiner Umgebung über den Geruch mit, wie es ihm geht. So kann mein Geruch dem Gegenüber signalisieren: “Geh nach Hause. Lass mich allein.” Oder: “Nimm mich mit.” Die Kommunikation über Gerüche ist sehr ehrlich. Wenn wir die realen Gerüche verstehen, sind wir mehr im Einklang mit uns selbst, wobei ich betonen möchte, dass das Riechen nicht die einzige Methode ist, um das zu erreichen.

 

Werde: Sie haben Städte wie Berlin und Kansas City für den Geruchssinn kartografiert, also die Städte für die Nase nachgebildet.

 

Tolaas: Ja, ich möchte mein Wissen weitergeben. Ich bin ehrgeizig. Es würde mich sehr freuen, wenn meine Arbeit dazu führt, die Lebenqualität anderer Menschen zu verbessern.

Es macht Spaß und ist interessant, die Gerüche einer Gegend wahrzunehmen und die Geruchsquellen auszumachen. Bahnhöfe sind da sehr ergiebig.

Die Geruchskarten sind heute nicht mehr erhältlich, weil sie projektbezogen waren. Schließlich ändert sich in einer Stadt in kurzer Zeit ziemlich viel, das betrifft auch die Gerüche. Aber in Kansas-City habe ich Reiseführer angelernt: Wir begaben uns auf Schnuppertour. Solche Touren möchte ich auch für Städte in Europa entwerfen.

 

Werde: Welche anderen Projekte verfolgen Sie noch?

 

Tolaas: Ich veranstalte Workshops für Kinder in Grundschulen und Kindergärten. Ich bringe Geruchsproben mit. Wir haben viel Spaß zusammen, wenn ich Hundekot auf den Tisch lege und die Kinder daran riechen. Es geht mir darum, die gewohnten Gerüche in einen fremden Kontext zu setzen, denn dann werden sie anders empfunden. Für diese Tatsache möchte ich ein Bewusstsein schaffen.

 

Werde: Empfindet denn nicht jeder, unabhänging vom Kontext, den Geruch von Hundedreck als Gestank?

 

Tolaas: Stellen Sie sich vor, den Geruch von Hundekot aus einer schönen Flasche wahrzunehmen. Wahrscheinlich würden Sie das Ergebnis dieser Dekontextualisierung sehr interessant finden und nicht eklig. Wir müssen mehr über Gerüche reden, um zum Beispiel zu klären, warum wir sie als angenehm oder unangenehm empfinden. Die genaue Situation kann dabei ebenso wichtig sein wie unsere kulturelle Prägung: In Indien bedeutet ‘gut riechen’ etwas anderes als in meiner Heimat Norwegen oder in Deutschland. Hierzulande wischen wir den Boden mit Putzmitteln, die den Geruch des Apfels “Granny Smith” tragen. Anderswo auf der Welt wäre das undenkbar.

 

Werde: Was wäre ihrer Meinung nach ein angemessener Umgang mit Gerüchen?

 

Tolaas: Wir brauchen eine wissenschaftliche Herangehensweise, die über die Erkenntnisse der Aromatherapie hinausgeht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Über Generationen haben wir erfahren, dass Lavendel beruhigend wirken kann. Diese Erfahrung macht sich die Aromatherapie zunutze. Wir wollen nun ein paar Schritte weitergehen und messen, was in unseren Körpern passiert, wenn wir mit bestimmten Geruchsmolekülen in Kontakt kommen: Der Geruchsforscher Hans Hatt hat zum Beispiel herausgefunden, dass bestimmte Düfte gegen Prostata-Krebs wirken. Das sind erstaunliche Dinge!

Ich erforsche gerade ein Molekül, das stark konzentrationsfördernd ist, das dich wach macht.

 

Werde: Welches Molekül ist das?

 

Tolaas: Das bleibt vorerst mein Betriebsgeheimnis.

 

Werde: Welche Zukunft haben die, wie Sie sagen, realen Gerüche?

 

Tolaas: Ich habe den Eindruck, dass sich mehr und mehr Menschen für Gerüche interessieren. Wer seinen Geruchssinn schulen will, kann bei sich selbst beginnen. Es lohnt sich herauszufinden, wie man selber riecht, um dann zu entscheiden, ob man ein Parfüm oder ein Deo auftragen möchte. Ich möchte das noch mit einer kleinen Geschichte veranschaulichen: Meine Tochter trägt manchmal meine T-Shirts und ihre Freunde sagen, dass sie so gut riecht. Daraufhin fragt sie mich: “Mama, was ist das? Welches Parfüm nimmst du?” “Das ist mein Geruch”, antworte ich ihr. Ich benutze weder Deo noch Parfüm.“Vielleicht solltest du das auch mal ausprobieren.”

Werde
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