Aufforstung im abgebrannten Urlaubsparadies: Die Nebelfänger von Gran Canaria

Natalia kämpft gegen eine Wüste. Denn darin könnte sich das Gebiet an den Hängen des „Barranco de la Virgen“ und der „Selva de Doramas“ auf Gran Canaria verwandeln, wo 2019 ein Waldbrand gewütet hatte. Natalia Marrero Ávila ist Vorarbeiterin des Aufforstungsprojekts „Life Nieblas“ auf Gran Canaria. Sie und ihr Team wollen die Fläche mit 20 000 Pflanzen neu besiedeln. Dafür ist viel Wasser nötig: Jeder Setzling braucht im ersten Jahr bis zu 50 Liter. Dazu nutzt das Aufforstungsteam sogenannte Cocoons, das sind Behälter, die einer Gugelhupf-Form ähneln und in den Boden eingelassen sind, um über feine Zwischenräume das Wasser an die Wurzeln der Setzlinge abzugeben.

„Früher wucherte hier ein Paradies. Selbst bei größter Trockenheit waren die Gipfel grün“, berichtet Natalia. Doch die Flammen brannten die letzten Flecken Lorbeerwald der Insel nieder. „Ich sehe noch die Rauchsäule vor mir“, erinnert sich die Waldarbeiterin. Sie beobachtete das Feuer von ihrem Wohnort aus, in einem Dorf in der Nähe. Heute keimen die verkohlten Stämme der Kanarischen Kiefer zwar neu aus, von Weitem wirken sie aber wie Staubwedel. Bleibt das Wasser knapp, wird sich ihre Krone nur sehr langsam verbreitern. Vereinzelt sprießt Ginster aus der verbrannten Erde, an vielen Stellen ist der Boden kahl.

Die 200 000 Liter Wasser, die die Projektmitarbeitenden zur Bewässerung benötigen, gibt die Natur nicht her: Von Frühjahr bis Herbst regnet es auf der Insel so gut wie nie. Natalia weist den Hang hinauf. Dort stehen vier Meter hohe, kastenförmige Nebelkollektoren. Sie mögen wie störende Fremdkörper wirken, tragen aber dazu bei, das Problem der Wasserversorgung zu lösen. Gut 3,5 Millionen Urlauber, die jährlich auf die kleine Insel kommen, verbrauchen das Wasser aus den Stauseen schnell. Zusätzliche Mengen liefern Meerwasserentsalzungsanlagen, doch ihr Betrieb ist energieaufwändig und teuer. Anders die Nebelfänger, mit denen es gelingt, nach dem Vorbild der Natur Wasser zu gewinnen: „Wie die Pflanzen, die hier einst wuchsen, kämmen sie das Nass aus dem Nebel, den die Passatwinde die Hänge hochtreiben“, erklärt Saúl Oliva Cabrera, Leiter des Projekts. Das dreht sich nicht nur um Aufforstung, auch diese Technologie der Wassergewinnung soll weiterentwickelt werden. „Wir wollen erreichen, dass Nebelfänger auch Landwirten nutzen, Viehzüchtern, kleinen Schulen oder Privatpersonen, die an abgelegenen Orten ohne Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung leben“, erklärt Oliva Cabrera.

Der Projektleiter stapft den Berg hinauf und weist auf einen Nebelkollektor. Er ist mit grünem Polyethylen bespannt. Das Gewebe erinnert an Balkonblenden und Moskitonetze: „Die feinen Wassertropfen des Nebels regnen normalerweise nicht ab, weil sie leichter sind als Luft“, erklärt der Kanare, „in den Maschen bleiben die Tröpfchen hängen, sammeln sich, so dass sich größere Tropfen bilden, die an dem Stoff herab kullern.“ Auf dem Boden des Nebelfängers wird das Wasser aufgefangen, fließt in Lagertanks und anschließend in die Aufforstungsgebiete. Diese liegen weiter unten am Hang, so dass die Schwerkraft dafür ausreicht. „Auf diese Weise vermeiden wir den Einsatz von Pumpen“, erläutert Saúl, „obendrein tragen die Kollektoren dazu bei, dass wir die unterirdischen Wasserleiter nicht kostspielig anzapfen müssen.“

Saúl wünscht sich, dass noch mehr Menschen überall auf der Welt das Potenzial dieser nachhaltigen Technologie erkennen, „für die Sanierung der Umwelt“, wie er es nennt. Schon heute stellen die Nebelkollektoren in vielen Ortschaften weltweit sogar die Versorgung mit Trinkwasser sicher: Am Rand der Sahara, ungefähr auf dem Breitengrad, auf dem auch Gran Canaria liegt, erprobte der deutsche Industriedesigner Peter Trautwein zwei Jahre lang mit der Technischen Universität München, welche Stoffe sich am besten eignen, um dort den Nebel anzuzapfen. Mittlerweile versorgen seine Kollektoren rund 1000 Menschen in 16 Dörfern.

Erstmalig entwickelt wurden die Nebelfänger wohl vor einigen Jahrzehnten in Chile. Noch heute bestehen sie dort aus zwei Pfählen, zwischen die ein Kunststoffnetz gespannt ist. „Die chilenischen Kollektoren sind sehr kostengünstig, wiegen wenig und lassen sich leicht installieren“, erklärt Saúl, „doch bei starkem Wind gehen sie kaputt.“ Deshalb hat ein privates Unternehmen vor rund fünfundzwanzig Jahren dreidimensionale Nebelfänger entwickelt, die nun auf Gran Canaria Wasser liefern.

„Sie sind stabil“, erläutert Saul, „ihr Fundament ist aus Beton.“ Diese 400 Kilogramm schweren Kollektoren ringen dem Nebel einiges an Wasser ab, doch es geht noch mehr: Der Wissenschaftler weist auf eine Apparatur, deren Form einem Schreibpult mit geneigter Tischplatte ähnelt. „Wir haben diesen Kollektor entwickelt, bei dem der Wind den Nebel durch Kämme drückt, an denen sich die Tropfen sammeln, ähnlich wie an den Nadeln einer Kiefer.“ Das Design sei aerodynamisch und bewirke, dass pro Quadratmeter Oberfläche dreimal mehr Wassertropfen hängen bleiben, und zwar 7,4 Liter pro Tag. Zum Vergleich: Bei den grünen Kollektoren sind es nur 2,5 Liter. Die Kanarische Kiefer schafft viel mehr. „Die Natur ist beim Auffangen von Nebelwasser weitaus effizienter als unsere Technologie im Moment“, sagt der Fachmann.

Er möchte noch sein Meisterstück vorführen. Es ist ein Nebelkollektor mit schwarzen Schraubverschlüssen. „Du kannst ihn wie Selbstbau-Möbel eigenhändig montieren und mehrere Apparaturen im Baukastensystem übereinandersetzen“, schwärmt er. Die Pläne finden sich auf der Internetseite des Projekts. Die Auffangschalen sind auffallend breit, kein Tropfen Wasser soll verloren gehen. „Die Kämme für den Nebelfang haben wir selbst gefertigt, und zwar aus Siebnetzen, die in der Landwirtschaft verwendet werden, um Steine von Sand zu trennen“, erläutert der Fachmann. „Das war aufwendig und teuer.“ Nun ist er auf der Suche nach einem Unternehmen, das die Kämme kostengünstiger herstellt. Interessenten sagt er, dass sich das Geschäft lohnen wird, weil zum Beispiel auch die anderen Kanarischen Inseln Kollektoren installieren wollen. „Vertreter der italienischen und griechischen Regierung haben ebenfalls mit uns Kontakt aufgenommen, sowie private Unternehmen aus anderen Teilen der Welt“, berichtet der Projektleiter.

Mittagspause. In einem Waldstück, das Fachleute vor 60 Jahren aufforsteten, rückt Saúl ein paar Baumstämme zurecht. Fertig ist der Sitzplatz. Hier wachsen filigranes Farnkraut und mächtige Kiefern, rund 15 Meter hohe Walnuss- und Lorbeerbäume voller Flechten und Moos. Der Boden ist feucht. „Das Grün des Waldes ist ein riesiger Nebelfänger“, erläutert Saúl. Das Wasser, das von den Bäumen tropft, versorgt nicht nur die Pflanzen, sondern füllt auch die Grundwasserspeicher. „Das Wasser aus dem Nebel war hier schon immer unser Regen“, erklärt der Fachmann, „doch weil die die meisten Bäume in den letzten Jahrhunderten abgeholzt wurden, um sie als Brenn- und Baumaterial zu nutzen und Weiden fürs Vieh zu schaffen, sitzen wir jetzt auf dem Trockenen.“ Auf der Kanareninsel La Gomera ist der größte noch zusammenhängende Lorbeerwald Europas, auch Laurisilva genannt, erhalten geblieben. Er ist UNESCO-Weltkulturerbe und streng geschützt.

Auf Gran Canaria soll es nun die Technik richten. Das Wasser, das hier aus dem Nebel gewonnen wird, dient nicht nur dem Aufforstungsprojekt. Auch ein Bauer auf einem benachbarten Grundstück profitiert. Die Fachleute überlassen ihm etwas Wasser für seine Apfelbäume. „So merken die Bauern, denen das angrenzende Land gehört, dass unsere Arbeit auch ihnen nützt“, erklärt Oliva Cabrera. Außerdem haben zwei Bauernfamilien in Kooperation mit „Life Nieblas“ eigene Kollektoren aufgestellt. „Vor dem Start unseres Projekts existierten bereits zwei Unternehmen, die das Nebelwasser kommerziell nutzen“, informiert der Wissenschaftler: Eine Firma füllt es in schicke Glasflaschen ab und verkauft es als Premium-Trinkwasser, die andere braut Bier.

Oliva Cabrera will nun nach Bäumen sehen, die seine Kollegen vor ein paar Monaten gepflanzt haben. „Ich überprüfe, ob sie noch leben und messe nach, wie viele Zentimeter jeder einzelne Baum gewachsen ist.“ Heute ist die Plantage dran, auf der die Fachleute sogenannte „individuelle Nebelkollektoren“ nutzen. Die kleinen Bäume sind jeweils von einem Netz umgeben. Das Gewebe sieht genauso aus wie der Stoff, mit dem die großen Nebelkollektoren bespannt sind. „Diese Netze dienen oft zum Schutz vor Pflanzenfressern“, erläutert der Wissenschaftler, „sie schirmen aber auch Sonne und Wind ab und tragen vor allem dazu bei, die Luftfeuchtigkeit aus dem Nebel aufzufangen und somit den Setzling länger feucht zu halten.“ In diesem Fall gelangt das Wasser nicht bis zu den Wurzeln. Es bleibt an der Oberfläche, kühlt den Boden und verhindert, dass die Pflanze bei heißem Wetter erstickt. „Von allen Aufforstungssystemen, die wir bisher getestet haben, ist es das erfolgreichste“, sagt Oliva Cabrera. „Der Preis für jeden Baum, den wir auf diese Weise neu angesiedelt haben, beträgt 50 Euro.“ Das Expertenteam hat dabei die Kosten berücksichtigt, die vom Abholen in der Baumschule bis zur Arbeit des Personals, das den Baum einpflanzt, anfallen. Außerdem rechneten die Fachleute den CO2-Fußabdruck, der etwa durch den Transport entsteht, mit ein, berücksichtigten Verluste, die entstehen, wenn ein Baum nicht gedeiht, sowie den Wasserverbrauch. „Dieser Preis interessiert Unternehmen, Institutionen oder Privatpersonen, die unsere Methoden anwenden wollen. Sie fragen: Wie viel kostet mich ein Baum?“ Bei der Cocoon-Methode beträgt der Preis rund 109 Euro und wenn mit Schlauch bewässert wird, fallen 136 Euro an.

Natalia Marrero Ávila hat inzwischen die Cocoons mit Wasser aufgefüllt und bewässert nun die Setzlinge direkt. „Auf diese Weise verschwinden die Luftholräume im Boden und der Cocoon wird fester verankert, außerdem bleibt so der Wurzelballen feucht“, erklärt sie. „Ich genieße das Wässern.“ Die Vorarbeiterin hat eine Ausbildung zur Verwaltungsangestellten absolviert, doch sie bemerkte, dass Land- und Forstwirtschaft sie mehr interessieren. Seit 25 Jahren ist sie nun Waldarbeiterin, hat sich berufsbegleitend weitergebildet. „Das Gebiet hier aufzuforsten ist manchmal harte Arbeit, doch sie hat einen Sinn“, erläutert Marrero Ávila, „am schönsten wird es sein, wenn wir das Projekt abschließen und die Natur sich selbst überlassen.“ Ziel ist es, 35 Hektar verbrannte Erde aufzuforsten. Bis 2030 wird das Team mit Nebelwasser, den die Kollektoren liefern, nachhelfen. Anschließend soll die Natur in der Lage sein, auf mehr als 100 Hektar Land von allein nachzuwachsen. „Die Idee ist, dass die Pflanzen, die wir hier oben ansiedeln nach und nach ihren Weg nach unten finden“, erläutert Saúl, „Die Vögel picken zum Beispiel die Früchte des Erdbeerbaums und verteilen die Samen.“ Natalia und Saúl setzen darauf, dass sie aufgehen.

Tagesspiegel
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