Vielfalt im Kornfeld
Vielfalt im Kornfeld
Der Bedarf an Getreide wächst. Ein schonender Anbau ist gefragt, damit die Umwelt nicht zu kurz kommt. Die Beliebtheit alter Sorten steigt, weil sie häufig widerstandsfähiger sind. Der Nachteil: Sie bringen weniger Ertrag
Auf dem Hof von Günter Seidlitz in Herzberg, südliches Brandenburg, kreist ein Bussard am Himmel, Lerchen singen und ein Reh springt durch das Kornfeld. Für den Biobauern kommen die Tiere wie gerufen. „Ich wirtschafte im Einklang mit der Natur“, sagt er und lacht. Sein Weizen namens „Alter Pommerscher Dickkopf“ wächst Seite an Seite mit Wicken, Gräsern und anderen Unkräutern. Der 67-Jährige spricht lieber von Beikräutern. Sie machen aus den Getreidefeldern einen Lebensraum für Insekten und Vögel, für Feldhasen und Wild.
Seidlitz baut nur noch alte Sorten an. Denn während das moderne Korn, auch das Biogetreide, bloß einen Meter hoch wird, wächst sein Getreide schneller und höher als die Begleitflora und kann sich somit gut behaupten. Außerdem hängen die Ähren so weit oben, dass sie Krankheitserregern wie Pilzen leichter entkommen, denn diese befinden sich meist am Boden. „Auf den Einsatz von Pestiziden kann ich getrost verzichten“, sagt der Bauer. Von den Börsen, die die Preise für Getreide diktieren, ist er unabhängig. Seidlitz vertreibt seine Körner regional. Weizen und Roggen liefert er an Mühlen, den Dinkel an eine Schnapsbrennerei und den Hafer kauft ein Start-Up, das daraus Hafermilch „für ein städtisches Publikum“ herstellt, so der Landwirt. Einen Teil seiner Ernte verfüttert er. „Meine Kühe mögen die Beikräuter“, sagt er. Obendrein erhält Seidlitz zusätzliche Fördermittel, weil sein Anbau die Artenvielfalt fördert.
„Trotz ihrer Vorteile sind die alten Landsorten und Arten wie Einkorn und Emmer fast verschwunden“, sagt Rudi Vögel, Mitarbeiter im Landesumweltamt Brandenburg und im Vorstand des VERN, einem Verein, der sich für die Erhaltung der alten Nutzpflanzen einsetzt. „Die alten Sorten stammen in der Regel aus der Zeit vor 1945, als im Getreideanbau noch nicht gespritzt wurde, doch es gibt auch Sorten aus den 80er Jahren.“ Gemeinsam sind ihnen der hohe Wuchs und die geringen Erträge: In Deutschland wirft ein Hektar Ackerland durchschnittlich acht Tonnen Getreide ab. Mit den alten Sorten erzielen die Bauern nicht einmal halb so viel.
„Die Pflanzenzüchtung hat enorme Fortschritte erzielt“, sagt Rudi Vögel. Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist das Getreide kürzer geworden, weil zwar mehr Körner aber weniger Stroh benötigt wird. Außerdem geht somit mehr Wachstumskraft ins Korn – höhere Erträge sind die Folge. Mehr als 2,65 Milliarden Tonnen Getreide fahren die Landwirtinnen und Landwirte jährlich ein. Vor Weizen und Reis hauptsächlich Mais, die größten Mengen in den USA, China, Brasilien und Argentinien. Erstaunlich ist, dass heute dreimal so viel Getreide geerntet wird wie 1960, obwohl die Anbaufläche gleich groß geblieben ist. Und trotzdem halten sich Erntemengen und Verbrauch die Waage, denn die Weltbevölkerung wächst und ob als Maistortilla, Weizenbrot oder Reisnudeln – Getreide ist in vielen Teilen der Welt ein Grundnahrungsmittel. Vögel möchte die modernen Sorten daher nicht missen, „doch wir brauchen auch die alten Sorten und Arten, denn die Vielfalt sorgt für stabile Ökosysteme.“
Im VERN hat Rudi Vögel die Aufgabe, das Saatgut in Sammlungen und auf Bauernhöfen zu sichten. Er berät Landwirte wie Seidlitz und versucht, für die alten Sorten neue Märkte zu erschließen. „Der Anbau muss sich rechnen“, sagt Vögel. Ein Betrieb stellt zum Beispiel aus sogenanntem Champagnerroggen Wodka her. Auch kleine Mühlen und Handwerksbäcker gehören zu seinen Partnern. „Diese Unternehmer wollen einen fairen Preis erzielen, indem sie sich klar von der günstigeren Konkurrenz absetzen“, erzählt der Artenschützer. „Sie setzen auf eine starke Kundenbindung und möchten mit ihrem Produkt auch eine Geschichte verkaufen.“ Der Bauer, der in intakter Natur wirtschaftet, hat darin seinen festen Platz.
Bei seiner Mission spielt Vögel auch das zunehmende Misstrauen, das die Verbraucher dem Weizen entgegenbringen, in die Karten. „Viele Menschen sind auf der Suche nach Alternativen zu dem Getreide, das Unverträglichkeiten auslöst“, sagt Vögel. Insgesamt sind wohl mehr als fünf Prozent der Bevölkerung gluten- oder weizensensitiv und reagieren mit Magen-, Darmbeschwerden, Kopf- und Gelenkschmerzen oder Hautausschlägen. Verschiedene Bestandteile wie zum Beispiel die Proteinfamilie der α-Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs) stehen unter Verdacht, die Unverträglichkeiten auszulösen. „Ich gehe davon aus, dass sie mit den Züchtungserfolgen zusammenhängen“, sagt Vögel. „In der Getreidezüchtung ging es jahrzehntelang um die Ertragssteigerung. Verträglichkeitsaspekte wurden dabei vernachlässigt.“
Doch dass die alten Sorten und Urgetreide wie Einkorn und Emmer bekömmlicher sind als Weizen, gilt nicht generell. „Wenn Menschen Brot aus Urkorn besser vertragen, könnte das schlichtweg an der Teigverarbeitung liegen“, sagt Bernhard Watzl, der am Max Rubner-Institut die Wirkung von Getreide auf den Körper erforscht. „Wieviel Zeit ein Teig zum Ruhen bekommt, spielt eine große Rolle.“ Diese ist bei der Verarbeitung der alten Sorten und Arten oftmals großzügiger bemessen als bei den Backmischungen der industriellen Brote. Je länger der Teig ruht, desto bekömmlicher wird er - unabhängig von der Art des Getreides.
Für Menschen, die Getreide gut vertragen und etwas für ihre Gesundheit tun wollen, hält der Experte eine einfache Regel bereit: Iss mehr Vollkorn! Stark gemahlene Mehle wie Weizen Type 405 bestehen hauptsächlich aus dem Mehlkörper, der den größten Teil des Korns ausmacht und Stärke und Eiweiß enthält. Doch die meisten Vitamine und Mineralstoffe stecken in den äußeren Schichten des Korns, in den Frucht- und Samenschalen. Die aktuelle Auflage der „Global Burden of Desease“, der weltweit größten Gesundheitsstudie, untermauert Watzls Regel. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben den Einfluss der Ernährung auf Sterblichkeit und Krankheiten untersucht. Auf Platz zwei der fünfzehn schlechtesten Ernährungsgewohnheiten steht der geringe Verzehr von Vollkornprodukten. Schädlicher ist nur noch zu viel Salz. „Schon die tägliche Zunahme von 50 Gramm Vollkornbrot, -reis oder -nudeln reicht aus, um der Gesundheit etwas Gutes zu tun“, sagt der Experte. Doch es geht noch mehr: „100 Gramm mindern das Risiko, an Diabetes zu erkranken um die Hälfte, und 200 Gramm tragen dazu bei, Herz und Kreislauf fit zu halten.“
Doch so gesund die Körner auch sein mögen – der Anbau der modernen, ertragreichen Sorten ist häufig ein „vernichtender Eingriff ins Ökosystem Acker“, sagt Rudi Vögel. „Es werden große Mengen Stickstoffdünger und Pestizide ausgebracht, die den Lebensraum von Laufkäfern, Pilzen, Schnecken, Rebhühnern und Feldhasen zerstören.“ Der Inlandsabsatz von Pflanzenschutzmitteln ist hierzulande seit 2006 von 30 000 auf 35 000 Tonnen Wirkstoff gestiegen, obwohl die Weichen für einen umweltfreundlichen Getreideanbau gestellt sind.
Der sogenannte integrierte Pflanzenschutz ist in Deutschland seit 2012 per Gesetz vorgeschrieben. „Seitdem haben vorbeugende, umweltschonende Maßnahmen gegenüber dem Einsatz von Chemie Vorrang“, sagt Bernd Rodemann vom Julius Kühn-Institut. Obendrein bleibt den Landwirten und Landwirtinnen, die hierzulande zusammen über 40 Millionen Tonnen Getreide anbauen, oft auch gar nichts anderes übrig, als alternative Methoden anzuwenden, „denn viele Unkräuter haben gegen die Pflanzenschutzmittel Resistenzen entwickelt“, sagt der Fachmann.
Der weltweite Handel bringt weitere Herausforderungen mit sich: Deutschland könnte seinen Bedarf an Getreide zwar vollständig durch die eigene Produktion decken, doch knapp zehn Millionen Tonnen Getreide werden importiert, über dreizehn Millionen exportiert. „Das befördert die Verbreitung von Schaderregern wie Pilzen und Insekten“, erläutert Rodemann. „Vor wenigen Jahren dachte ich noch, dass es für jedes Problem auf dem Getreidefeld bestimmte Methoden und Mittel gibt, um es zu lösen. Heute ist alles sehr viel komplexer und jedes Jahr kommen Probleme hinzu.“
Neue Methoden sind deshalb gefragt, die im Rahmen verschiedener Projekte erprobt werden. Zum Beispiel säen die Fachleute Getreide nicht ordentlich in Reihen aus, sondern kreuz und quer über das Feld verteilt. „Die Pflanzen wirken dann wie ein Gitter und halten die Unkräuter niedrig“, sagt Rodemann. „Zusätzlich werden GPS-gesteuerte Spritzen entwickelt, um chemische Mittel punktgenau aufzutragen und ihre Mengen somit zu reduzieren.“ Darüber hinaus sollen abwechslungsreiche Fruchtfolgen, also der stufenweise Anbau von drei, vier oder mehr Ackerfrüchten, die Pflanzen fit machen. Damit der Appetit auf Getreide dazu beiträgt, die Umwelt zu schützen.