Und was verraten Ihre Finger?

Mein Quotient ist 0,94. Nein, nicht der Intelligenzquotient. Ich hoffe, der ist ein paar Zähler höher. Es geht um meinen Finger-Quotienten, die Länge des Zeigefingers geteilt durch die des Ringfingers. Mein Zeigefinger ist also ein bisschen kürzer als mein Ringfinger „Na und?“ werden Sie denken. Sie ahnen ja nicht, was dieser Quotient alles – zumindest tendenziell – über mich aussagt.

 

Zunächst einmal bedeutet er, dass ich mit einiger Sicherheit ein Mann bin. Das ist beruhigend, gehe ich doch, seit ich denken kann, fest davon aus. Schon vor gut 100 Jahren haben Wissenschaftler festgestellt, dass bei Männern der Zeigefinger in aller Regel kürzer ist als der Ringfinger. Bei Frauen dagegen sind die beiden Finger eher gleich lang, bei manchen ist der Zeigefinger sogar länger als der Ringfinger. Gut, der Unterschied ist nicht groß. Es geht um Millimeter: Männer haben im Schnitt einen Quotienten von 0,95 bis 0,98, Frauen einen von 0,97 bis 1,0 – je nachdem, welche Studie man liest und welcher Ethnie die Menschen zugehören, denn zwischen Europäern und Asiaten oder Afrikanern zum Beispiel gibt es ebenfalls Unterschiede. Aber die Differenz zwischen Mann und Frau liegt immer bei rund 0,02. Sie ist statistisch signifikant – und das zählt in der Wissenschaft.

 

Woher jedoch dieser Unterschied kommt, und was damit womöglich alles zusammenhängt, das haben Forscher erst in den letzten Jahren genauer untersucht – vor allem, welche Bedeutung verschiedene Fingerquotienten innerhalb eines Geschlechts haben. Der britische Psychologe John Manning hat im März 2008 ein ganzes Buch darüber veröffentlicht.

 

So deutet mein selbst für einen europäischen Mann relativ kurzer Zeigefinger zum Beispiel daraufhin, dass ich tendenziell sportlich bin sowie musikalisch und mathematisch begabt. Soweit kann ich das natürlich nur bestätigen. Allerdings neige ich angeblich auch zu Aggressivität und erhöhter Risikobereitschaft. Außerdem ist mein Quotient ein Indikator für Potenz und – hoffentlich bekommt meine Frau dieses Heft nie in die Hand – Untreue. Manning nennt einen niedrigen Fingerquotienten daher auch den „Casanova-Typ“ (Casanova, das ist eindeutig überliefert, hatte ebenfalls einen relativ langen Ringfinger).

 

Doch damit nicht genug. Mein niedriger Quotient sagt auch viel über meine Anfälligkeit für bestimmte Leiden aus: Hyperaktivität, Migräne, Stottern und Depressionen, ja sogar Autismus haben mittlerweile mehrere Studien damit in Verbindung gebracht.

 

Läge mein Fingerquotient dagegen nahe eins, oder wäre mein Zeigefinger sogar länger als der Ringfinger, spräche das laut Experten für erhöhte Sprachgewandheit, mehr Emotionalität und weniger Drang, sich in den Vordergrund zu spielen. Alles Talente, die man sonst eher Frauen zuordnet. Bei denen ist es übrigens ein besonders lange Zeigefinger, der erhöhte Fruchtbarkeit anzeigt, allerdings auch ein größeres Risiko für Brustkrebs. Bei Männern drohen stattdessen Herzattacken – und beiden Geschlechtern Neurosen, Allergien und Essstörungen.

 

Tja, und dann ist da noch die Sache mit der Homosexualität: Der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Fingerlängen und sexueller Orientierung gibt, haben sich einige Forscher besonders intensiv gewidmet.

 

Die erste gezielte Studie dazu machte vor knapp zehn Jahren der Neurologe und Psychologe Marc Breedlove von der Berkeley University in Kalifornien. Mit ein paar Studenten und einem Kopiergerät befragte er in San Francisco insgesamt 720 Passanten. San Francisco ist sozusagen das Köln der amerikanischen Westküste – der Bevölkerungsanteil an homosexuellen Menschen ist recht hoch.

 

Das Forscherteam fragte nach der sexuellen Orientierung und machte Kopien der Handflächen, um später die Fingerquotienten zu ermitteln. Und tatsächlich, zumindest bei lesbischen Frauen war der Zusammenhang eindeutig: Ihr Quotient lag im Schnitt um 0,01 niedriger als bei heterosexuellen Frauen. Sie hatten also Casanova-Hände. Bei homosexuellen Männern lag der Quotient wie erwartet höher als bei heterosexuellen – allerdings im Durchschnitt nur um Bruchteile eines Millimeters und darum statistisch nicht signifikant. Ihre leichte Tendenz zu weiblicheren Händen konnte also auch Zufall sein.

 

Doch weitere Studien haben Breedloves Ergebnisse inzwischen bestätigt. Am eindrucksvollsten der Sex ID-Survey, eine Internet-Umfrage der britischen Rundfunkanstalt BBC, die sie zusammen mit John Manning und vielen anderen Forschern 2005 online durchgeführt hat und deren Auswertung seit vergangenem Jahr vorliegt. Über eine Viertel Million Menschen aus aller Welt nahmen daran teil. Wobei dieses Mal die schwulen Männer eine klarere Tendenz zu weiblicheren Händen zeigten, während die der lesbischen Frauen zu männlicheren Händen zwar feststellbar, aber weniger deutlich als bei Breedlove war. „Damit ist der Zusammenhang für viele Forscher hinreichend belegt“, sagt Richard A. Lippa, Psychologe an der California State University, der ebenfalls bei der Auswertung beteiligt war.

 

Die Preisfrage ist natürlich, welche Faktoren das Längenverhältnis zwischen Zeige- und Ringfinger und damit offenbar auch die Talente, Verhaltensweisen und Krankheitsneigungen eines Menschen bestimmen. Des Rätsels Lösung liegt im Leib der Mutter eines jeden verborgen: Es ist die Balance zwischen den Sexualhormonen Testosteron und Östrogen, denen ein Fötus etwa ab der achten Schwangerschaftswoche ausgesetzt ist. „Das männliche Sexualhormon Testosteron bestimmt das Wachstum des Ringfingers“, sagt Buchautor John Manning. „Und das weibliche Sexualhormon Östrogen das des Zeigefingers.“

 

Das hat man nicht zuletzt durch Experimente mit Säugetieren wie Ratten, Mäusen und Affen herausgefunden. Bei ihnen haben Forscher nämlich keine Hemmungen, einfach mal auszuprobieren, was passiert, wenn man einem in der entsprechenden Entwicklungsphase eine Extraportion des einen oder anderen Hormons verpasst. Es zeigte sich dabei nicht nur, dass auch Mäusepfoten die entsprechenden Fingerquotienten entwickeln und auch Ratten mit Hormonüberschuss psychische oder organische Probleme bekommen können. Die Tiere änderten auch ihr Verhalten. „Sie sind im Prinzip beliebig auf männliches oder weibliches Gebaren zu trimmen, indem man einfach den Hormonspiegel in der richtigen Entwicklungsphase manipuliert“, berichtet Marc Breedlove.

 

Männliche Ratten zum Beispiel sind beim Sex dominanter als Weibchen, sie finden andere Düfte attraktiv, bevorzugen andere Süßigkeiten und sie finden sich räumlich besser zurecht. Spritzt man Weibchen im Mutterleib Testosteron, so verhalten sie sich wie ein Männchen. Oder auch Rhesusaffen: Bei ihnen gähnen die Männchen viel häufiger als weibliche; sie demonstrieren damit ihre Überlegenheit. Gibt man ihnen in der Frühentwicklung jedoch Östrogen, so gähnen sie als ausgewachsenes Tier viel seltener, Weibchen dagegen öfter, wenn man ihnen Testosteron verabreicht.

 

Jetzt könnte man natürlich sagen, Hormon- und dementsprechende Verhaltensschwankungen sind doch normal, Frauen nach einer Schwangerschaft zum Beispiel können ein Lied davon singen. Doch hier geht es um die grundsätzliche Hormonausstattung eines Menschen, die nicht nur für den Rest seines Lebens den Fingerquotienten, sondern gleichzeitig sogar die Ausformung des Gehirns beeinflusst. Testosteron fördert die zuständigen Hirnareale für „männliche“ Stärken wie analytisches Denken und räumliches Vorstellungsvermögen, während Östrogen eher kognitiven und emotionalen Funktionen – also die weiblichen Stärken – begünstigt.

 

Was also lehrt uns letztlich die Erkenntnis, dass unser Fingerquotient offenbar in Zusammenhang mit Geschlecht, sozialem Verhalten, Talenten und sexueller Orientierung steht? Vor allem, dass viele Eigenschaften eines Menschen nicht erst durch soziale Einflüsse während der Kindheit und Jugend festgelegt werden. „Die Sozialforscher müssen sich an den Gedanken gewöhnen“, sagt der britische Psychologe Simon Baron-Cohen, „dass geschlechtsspezifische Prägung schon vor der Geburt stattfindet.“

 

Allerdings warnen die Experten davor, jemanden anhand seines Fingerquotienten zu beurteilen: „Es ist nur ein Indikator“, sagt Marc Breedlove. „Daran allein kann man nicht ablesen, ob jemand zum Beispiel homosexuell ist oder nicht. Dieser Zusammenhang wird erst bei einer großen Zahl von Probanden offenbar. Ungefähr so wie bei der Körpergröße: Männer sind im Schnitt deutlich größer als Frauen, aber man kann das Geschlecht eines Menschen nicht nur an der Körpergröße erkennen.“ Dafür gibt es zu viele Ausnahmen von der Regel, große Frauen und kleine Männer.

 

Vielleicht bin ich also doch ein netter Kerl, der auch zu Mitgefühl und Treue fähig ist – trotz meiner „Casanova“-Hände.

 

 

So messen Sie ihren Fingerquotienten

 

Der reine Blick auf die Handoberfläche liefert oft ein verzerrtes Ergebnis, weil der Ringfinger oft tiefer an der Handfläche wurzelt als der Zeigefinger. Für einen genaueren Quotienten sollten Sie auf die Handinnenfläche mit ausgestreckten Fingern schauen. Jeder Finger hat an seiner Wurzel Falten, der Zeigefinger in der Regel eine, der Ringfinger oft auch mehrere. Messen sie jeweils von der Mitte der Falte aus, die am nächsten zur Handfläche liegt, bis zur Fingerspitze. Teilen Sie nun die Länge des Zeigefingers durch die des Ringfingers, heraus kommt der Fingerquotient. Ist er unter Eins, also der Ringfinger länger, haben sie „männliche“ Hände. Ist er über Eins, also der Zeigefinger länger, sind die Hände eher „weiblich“.

 

P.M. Perspektive
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