Stammen wir alle vom Saturn?
Als Stars des Planetensystems machen sie dem Mars ernsthafte Konkurrenz. Titan und Enceladus, die beiden Saturnmonde, die seit 2005 von der Raumsonde Cassini erforscht werden, gelten heute als heiße Kandidaten für den großen Preis der Astronomie: die ersten Himmelskörper jenseits der Erde, auf denen wir Leben finden.
Das rückt sie nicht nur für Astrobiologen, die nach extraterrestrischen Organismen fahnden, in den Mittelpunkt des Interesses. Auch Anhänger der so genannten Panspermie-Theorie horchen auf. Sie vertreten die Ansicht, das Leben auf Erden sei nicht auf unserem Heimatplaneten selbst entstanden, sondern in Form winziger Mikroben von einem anderen Himmelskörper zu uns gelangt. Das ist wohlgemerkt keine Spinnerei. Auch angesehene Experten halten dies für möglich. Zum Beispiel der britische Astrophysiker Paul Davies, der an der amerikanischen University of Arizona lehrt und sagt: „Ich habe schon vor vielen Jahren vorgeschlagen, das Leben könne von Titan stammen.“
Die Cassini-Mission scheint seine damalige Vermutung zu stützen. Ist das erste Leben der Erde also von Titan oder auch Enceladus herübergeflogen? Sind wir alle Kinder des Saturn?
Spielen wir diese steile These doch einfach mal durch. Zunächst: Wie kommt man überhaupt darauf, das Leben sei nicht auf der Erde entstanden? Klar ist, dass die ersten Mikroorganismen vor 3,5 bis 3,8 Milliarden Jahren auftauchten. Winzige fossile Reste in uralten Gesteinsschichten Grönlands, Südafrikas und Australiens zeugen davon. Man geht davon aus, dass die Einzeller aus langkettigen kohlenstoffbasierten Molekülen hervorgingen, die in flüssigem Wasser verklumpten und irgendwie, zum Beispiel über Blitze, Energie zugeführt bekamen. Jedenfalls fingen die Klumpen dann an, das zu tun, was wir als Leben definieren: Energie mit der Umwelt austauschen, einen Stoffwechsel führen, wachsen und sich fortpflanzen. Wie genau allerdings dieser entscheidende Schritt vollzogen werden konnte – vom Klumpen organischer Moleküle zum Lebewesen –, ist vollkommen unklar. Und manche Experten meinen eben, dafür sei auch gar nicht genug Zeit gewesen. Schließlich ist die anfangs glutflüssige Erdoberfläche erst vor etwa 4,2 bis 4,4 Milliarden Jahren erkaltet. Bis zu den ersten Einzellern vergingen also nur wenige hundert Millionen Jahre. Erstaunlich wenig Zeit im Vergleich zu den gut drei Milliarden Jahren, die der nächste evolutionäre Schritt zum mehrzelligen Wesen erforderte.
Folgen wir diesem Argument mal und sagen, die ersten Einzeller kamen aus dem All. Wie könnten sie das angestellt haben? Schließlich gab es damals noch keine Raumsonden.
Brauchten sie auch nicht, meinen Panspermisten und Astrobiologen unisono. Denn dazu gibt es ein viel praktischeres Vehikel: das Meteoritentaxi.
Wenn ein Felsklotz von sagen wir mal zehn Kilometern Durchmesser – etwa so groß war der Asteroid, der vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier auslöschte –, auf einem Planeten oder Mond einschlägt, dann schleudert er Millionen kleinerer Gesteinsbrocken ins All. Nicht alle fallen zurück auf den Boden. Einige stieben davon, treten in eine exzentrische Umlaufbahn um die Sonne ein und kreuzen womöglich die Umlaufbahn eines anderen Planeten. Mit etwas Glück – oder Pech, je nachdem, ob man damals eine Mikrobe auf einem Meteoriten war oder heute ein Mensch auf der Erde ist – kommt genau in dem Moment auch der Planet vorbei. Rumms! Volltreffer.
Von dieser Art Taxi fliegen unzählige durchs Sonnensystem. „Allein auf der Erde hat man schon über 40.000 Meteoriten entdeckt“, sagt Jörg Fritz, Kosmogeologe am Naturkundemuseum in Berlin. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Man schätzt, dass jedes Jahr rund 20.000 Brocken von mindestens 100 Gramm Gewicht auf der Erde landen. Und in der Jugend des Sonnensystems war noch wesentlich mehr Verkehr. Damals hatten die Planeten sich gerade erst gebildet und Myriaden kleine und große Felsbrocken ihren Platz im System noch nicht gefunden.
Zwar hat man bislang auf keinem der entdeckten Meteoriten Mikroben identifiziert, aber immerhin komplizierte organische Moleküle, die als Vorstufen gelten. Und in einem Fall auch „wurmartige Mikrostrukturen, die an irdische Fossilien erinnern“, wie Gerda Horneck vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln berichtet.
Vor allem ihre Forschergruppe war es auch, die nachgewiesen hat, dass ein Meteorit als Taxi wirklich taugt. In einer Explosionskammer setzten die Forscher in Gestein eingebettete Bakteriensporen und Flechten Druckverhältnissen aus, die ein Einschlag der Dinokiller-Klasse produziert – bis zu 50 Gigapascal. Und siehe da: Zumindest ein kleiner Teil der Mikroben überlebte. Simulationen des US-Forschers Jay Melosh vom Lunar and Planetary Laboratory der University of Arizona ergaben zudem, dass auch die beim Einschlag entstehende Hitze nicht alles tötet, was auf den frei gesprengten Gesteinsbrocken davonfliegt. Viele der Brocken werden nicht einmal 100 Grad warm, ergaben die Berechnungen. Für eine Sterilisation reicht das nicht. Und auch die Beschleunigung von etwa dem 15.000-fachen der Erdanziehung, mit der die Brocken ins All katapultiert werden – ein Raketenstart liegt nur beim Vierfachen –, halten Mikroben aus. Das haben Versuche in Zentrifugen gezeigt.
Der turbulente Start wäre also schon mal überstanden. Aber was ist mit der Reise durchs All, wo Vakuum und todbringende Strahlung lauern? Und zwar hunderttausende bis viele Millionen Jahre lang, denn so ewig kann eine solche Taxifahrt dauern, wie Analysen von Marsmeteoriten ergeben haben. „Auch das ist kein unüberwindliches Hindernis“, versichert der Astrobiologe Ralf Möller, einer von Gerda Hornecks Kollegen am DLR in Köln. „Vorausgesetzt, die Mikroben stecken mindestens einen Meter tief im Meteoriten-Gestein.“ Ein derart dicker Schutzschild würde die Strahlung abschirmen.
Selbst ohne haben Bakterien schon ihre Zähigkeit unter Beweis gestellt. So hat Gerda Hornecks Gruppe zum Beispiel Sporen des Bakteriums Bacillus subtilis an dem europäischen EURECA-Satelliten angebracht, mit dem sie 327 Tage im Erdorbit durchs All schwebten. Ein Viertel der Sporen überlebte. Und selbst von den Sporen der gleichen Art, die 2107 Tage, also fast sechs Jahre, mit dem LDEF-Satelliten der NASA im All verbrachten, konnten noch rund 1,4 Prozent wiederbelebt werden. Waren die Mikroben in Salz- oder Zuckerkristalle gehüllt, erhöhte sich der Anteil sogar auf 30 beziehungsweise 80 Prozent. Außerdem, so berichtet Horneck, „konnten Bakteriensporen aus Bernstein wieder zum Leben erweckt werden, die dort etwa 30 Millionen Jahre lang im Verdauungstrakt einer eingeschlossenen Biene verbracht hatten.“ Unfassbar, was diese Winzlinge alles aushalten.
Bleibt noch die Landung auf der Erde. Die stellt erst recht kein Problem dar: Sie ist weit weniger heftig als der Start, weil die Erdatmosphäre den Meteoriten abbremst. Und auch die Reibungshitze, die dabei entsteht, kratzt die Mikroben nicht: „Zwar schmelzen oder verdampfen 90 Prozent eines ein Meter großen Meteoriten“, erklärt Kosmogeologe Jörg Fritz, „aber bereits einen Zentimeter unter der Schmelzschicht richtet die Hitze nichts mehr an, weil Stein ein schlechter Wärmeleiter ist. Im Kern des Meteoriten bleibt alles tiefgefroren.“ Und somit konserviert wie in einer Tiefkühltruhe.
Vom Prinzip her ist eine Taxifahrt per Meteorit also machbar. Fragt sich, ob es auf den Saturnmonden überhaupt Passagiere gibt. Wie bereits angedeutet, hat Cassini dafür zumindest Hinweise geliefert. Auf Enceladus – mit 500 Kilometern Durchmesser eine relativ kleine Kugel Eis, auf der man keinerlei Aktivität vermutete – fotografierte die Raumsonde vor vier Jahren eine hunderte Kilometer hohe Fontäne aus Eispartikeln, die am Südpol des Mondes ins All sprüht wie ein Geysir. Unter der Oberfläche musste es also zumindest an dieser Stelle relativ warm und das Wasser flüssig sein. Am Fuß des Geysirs zeigten die Bilder zudem vier über hundert Kilometer lange Schluchten in der ansonsten fast makellos eisigen Mondoberfläche. Dort entdeckten man Kohlendioxid und einen Mix aus Kohlenwasserstoffen. Mit anderen Worten: „Enceladus hat Wärme, Wasser und organische Substanzen, einige der wesentlichen Bausteine zur Entstehung von Leben“, sagt Cassini-Projektforscher Dennis Mason vom Jet Propulsion Laboratory der NASA.
Und Enceladus' großer Bruder Titan bietet sogar noch mehr. Sein Durchmesser beträgt 5150 Kilometer, er ist also größer als der Planet Merkur. Auf Titan warf Cassini die Landeeinheit Huygens ab, weil man sonst schlecht durch seine dichte Atmosphäre schauen konnte. Die Lufthülle allein ist schon bemerkenswert, zumal sie vor allem Stickstoff enthält. Denn der einzige Gesteinsbrocken im Sonnensystem, der sonst noch eine solche Lufthülle aufweist ist: die Erde. Doch damit nicht genug. Auf der Titanoberfläche ist es zwar ähnlich kalt wie auf Enceladus, aber es gibt Gebirge und Dünen wie auf dem Mars und dazu – im Unterschied zum Mars – aktive Vulkane und Seen. Zwar werfen die Vulkane Ammoniak-haltiges Eis statt Magma aus und die Seen sind nicht mit Wasser, sondern vor allem den Kohlenwasserstoffen Methan und Ethan und einer Prise Acetylen gefüllt, die vom Himmel regnen. „Dennoch ist wirklich überraschend, wie sehr Titans Oberfläche der unserer Erde ähnelt“, urteilt NASA-Expertin Rosaly Lopes vom Jet Propulsion Laboratory im kalifornischen Pasadena. „Mehr als jeder andere Himmelskörper im Sonnensystem.“
Demnach sind Anhalter durch die Galaxis auf Saturnmonden denkbar. Fragt sich, ob das auch vor über vier Milliarden Jahre so war – könnten Titan oder Enceladus zu einer Zeit, als die Erde noch zu heiß war, bereits günstige Lebensbedingungen geboten haben?
Durchaus denkbar, meint Jörg Fritz. Wie Mars auch seien die beiden kleiner als die Erde und nach Entstehung des Sonnensystems vor rund 4,5 Milliarden Jahren entsprechend schneller abgekühlt. Ihre Oberflächen dürften also schon einige Zeit früher verkrustet sein, so dass erste primitive Organismen hätten Fuß fassen können, um sich alsbald ins All schleudern zu lassen.
Insgesamt sieht es also für die These, das irdische Leben stamme von einem der Saturnmonde, gar nicht so schlecht aus – wären da nicht noch einige wesentliche Haken.
Der kanadische Astronom Brett Gladman von der University of British Columbia hat vor gut drei Jahren einmal den umgekehrten Fall simuliert, ob von der Erde losgesprengte Meteoriten zu Titan gelangen könnten. Ergebnis: Von 18.000 berechneten Flugbahnen endeten – je nachdem wie schwer der auslösende Einschlag war – bis zu 20 auf Titan. „Der Flug von dort zu uns ist aber viel unwahrscheinlicher“, meint Gladman. „Der meiste Auswurf von Titan würde wohl von der Gravitation Jupiters oder der Venus aus dem Sonnensystem geschleudert, bevor er die Erdbahn kreuzen kann.“ Und womöglich nicht einmal das: „Die große Mehrheit der von einem Saturnmond abgesprengten Felsen schluckt Saturn selbst“, sagt Alessandro Morbidelli von der Sternwarte in Nizza, ein Experte für die Schwerkraftfelder der Planeten. Der enormen Anziehung des riesigen Ringplaneten könnten nur wenige Brocken entkommen und in einen Orbit um die Sonne eintreten. Und von diesen wenigen träfe nur ungefähr jeder Millionste die Erde. „Daher halte ich es zwar nicht für unmöglich, aber doch extrem unwahrscheinlich, dass bei uns überhaupt jemals ein Meteorit von einem der Saturnmonde gelandet ist.“
In der Tat: Von den 40.000 Meteoriten, die man auf der Erde gefunden habe, so Jörg Fritz, stammen fast alle aus den Asteroidengürteln, vom Mars oder vom Erdenmond. „Einen vom Saturn hat noch niemand gefunden und erwartet auch niemand. Wenn, dann könnte man ihn anhand spezieller Gesteinsanalysen sicher identifizieren.“
Paul Davies selbst – der eingangs erwähnte Vertreter der Panspermie-Theorie – hat sich inzwischen von seiner Titan-These abbringen lassen und hält nun Mars für die wahrscheinlichere Quelle irdischen Lebens.
Nichtsdestotrotz planen die europäische Raumfahrtagentur ESA und die US-Agentur NASA eine neue Mission zu Enceladus und Titan. Die Sonde – von der ESA „Titan and Enceladus Mission“ oder kurz „TandEM“ genannt und von der NASA „Titan Saturn System Mission“ – soll ausgestattet mit einer Landeinheit und einem Wetterballon nachsehen, ob es auf den beiden Monden flüssiges Wasser gibt. Vielleicht findet sie sogar Mikroorganismen. Der Start ist für 2020 vorgesehen, die Ankunft erfolgt neun Jahre später.
Fazit: Sollte TandEM tatsächlich Leben auf einem der Saturnmonde finden, ist es plausibler, dass dieses irgendwann per Meteoritentaxi von der Erde dorthin gelangte als umgekehrt. Gleiches gilt übrigens, falls wir Leben auf dem Mars finden. Womöglich zeigt sich dann aber auch, dass die Lebensformen vollkommen unabhängig voneinander entstanden sind. Das eigentlich zugrunde liegende Rätsel bliebe so oder so ungelöst, sagt Paul Davies: „Die Frage, wie das Leben entstanden ist, klärt die Panspermie-Theorie nicht. Sie verlagert sie einfach nur woanders hin.“