Glück macht Schule

Kann man Lebenszufriedenheit lernen? Hinrforscher und Erziehungswissenschaftler meinen: ja. Und haben Lehr-Programme für Schulen entwickelt. Ein Besuch im Glücksunterricht einer dritten Klasse. Text: Tania Greiner

Acht Uhr. Hohe, alte Fenster. Ein großes U aus Tischen, an dem alle Schüler Platz genommen haben, füllt den Klassenraum. Dann ertönt leise Musik aus dem CD-Spieler. Das ist das Startzeichen: Bequem machen, aufmerksam lauschen, und los geht die Fantasiereise, auf einem weichen Weg mitten im Wald an einem sonnigen Frühlingstag. Amina hat ihren Kopf auf die Unterarme gelegt, die Augen geschlossen, Mathias, grauer Kapuzenpulli, gegelte Haartolle, blickt starr auf die Tischplatte. Und während die Klassenlehrerin die Kinder dazu einlädt, die schönen Blumen am Wegrand zu betrachten und an ihnen zu schnuppern, sich ins weiche Moos zu legen und das Streicheln einer sanften Brise auf der Stirn zu spüren, ist kein Mucks zu hören. Später, als sie die Kinder dazu auffordert, strecken und räkeln sich einige genüsslich, andere bleiben lieber still sitzen und schauen ein bisschen verlegen drein.

Aber alle sind jetzt hellwach. „Eine gute Voraussetzung für eine Wohlfühlstunde“, sagt Kathrin Leinweber, Lehrerin an der Praxisvolksschule der Pädagogischen Hochschule Steiermark. Selbstverständlich bringt auch sie ihren Drittklässlern das Schreiben und das Einmaleins bei. Aber einmal in der Woche steht für 45 Minuten etwas anderes auf dem Stundenplan: das Lebensglück.

Denn das, so meinen immer mehr Schulen, kann man lernen – je früher desto besser. Im deutschen Sprachraum bieten mittlerweile über hundert Regelschulen Glücksunterricht an. Besonders in Süddeutschland und Österreich steht mancherorts eine Glücksstunde pro Woche auf dem Stundenplan. Das neue Lebensfach soll sogar wissenschaftlich abgesichert sein, predigen doch Glücksforscher schon seit Jahren: Das Unglück bekämpfe der Mensch amerfolgreichsten, indem er an der eigenen Einstellung zum Leben arbeite und sich im positiven Denken übe. Wohlgefühle sind also keine Frage des Schicksals, sie lassen sich gezielt erzeugen – so die Lehrmeinung der Positiven Psychologie, einer noch jungen Forschungsdisziplin, die Hirnforschung und Erziehungswissenschaften miteinander verbindet.

Begründet hat sie der US-Psychologe Martin Seligman, der als Vorsitzender der American Psychological Association 1998 seine Zunft dazu aufrief, sich endlich den Stärken des Menschen zu widmen, statt sich stets auf seine Schwächen, wie etwa Ängste, Neurosen oder Traumata zu konzentrieren.

Im Laufe seiner Studien identifizierte Seligman über 24 „Determinanten des Glücks. Es sind Charakterstärken wie etwa Teamfähigkeit, Sinn für Schönheit, Neugier, soziale Intelligenz, Fairness, die Fähigkeit, anderen zu vergeben oder Mut“, die den Weg zum sinnerfüllten Leben ebnen sollen. Das Glücksempfinden, so Seligman, hänge zwar zu 50 Prozent von den genetischen Anlagen jedes Einzel- nen ab – ein Erbe, dem der Mensch nicht entrinnen kann.

Die anderen 50 Prozent aber könne jeder selbst beeinflussen. Denn das Gehirn ist ein Leben lang formbar, wie Neurowissenschaftler nachgewiesen haben. Seligman folgert: Um Glück zu empfinden, muss jeder seine persönlichen Stärken erkennen und fördern.

„Glück hat in erster Linie mit Bewusstsein zu tun“, sagt Kathrin Leinweber. „Das möchte ich bei meinen Schülern schärfen, darum geht es.“ Denn wer über sich, seine eigenen Neigungen und Stärken, aber auch seine Umgebung nicht Bescheid weiß, der kann sich nur schwer etwas Gutes tun.

„Die meisten meiner Schüler sind Stadtkinder. Sie kennen die Natur so gut wie gar nicht. Wie sollen sie da den Wert der Natur fürs eigene Lebensglück schätzen lernen?“ Direkte Naturerlebnisse kann allerdings auch Kathrin Leinweber ihren Schülern nur selten bieten. Die Schule liegt mitten in der Stadt, davor ein kleiner Platz, umrandet von Straßen. Klar gibt es Ausflüge oder Projekttage, „dann gehen wir so viel wie möglich raus.“ Aber meistens spielt sich der Unterricht eben doch drinnen ab. „Sinnesreisen bieten da eine gute Möglichkeit, auch im Klassenzimmer ein Gespür für die Natur zu entwickeln“, sagt Kathrin Leinweber. Und noch etwas sollen die Kinder von diesen Übungen zur Selbstversenkung für ihr späteres Leben mitnehmen: Achtsamkeit – ein Begriff, auf den man immer wieder stößt, wenn man sich mit den neueren Erkenntnissen aus der Glücksforschung beschäftigt.

Achtsamkeit lernen heißt zu lernen, seine Umwelt entspannt und aufmerksam zu beobachten. Zum Beispiel „das ganze Bild des Waldes aufnehmen, mit all den einzelnen Pflanzen, Tieren, Geräuschen und Düften “ – wie die Lehrerin es beschreibt. Wer das kann, lebt im Augenblick, ohne ihn zu beurteilen. Er kann seinen Geist beruhigen, konzentriert handeln, ohne sich von seinen wechselnden Gefühlen beeinflussen zu lassen – ein wichtiger Schlüssel für psychisches Wohlbefinden, wie wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit der „Achtsamkeitsmeditation“ zeigen.

Denn wer regelmäßig meditiert und seine Gedanken fokussiert, setzt sein Gehirn regelrecht unter Drogen. Botenstoffe, die für gute Gefühle sorgen, werden bei der inneren Versenkung ausgeschüttet – etwa das oft als „Glückshormon“ bezeichnete Dopamin. Dieses Hormon braucht unser Gehirn, um körpereigenes Morphium herzustellen, das unseren Körper in einen ruhigen und entspannten Zustand versetzt. Dopamin stößt auch die Bildung von Stickstoffmonoxid an. Es senkt den Blutdruck, weitet die Gefäße und lässt das Herz langsamer schlagen.

In der Grazer Volksschule steht die nächste Übung auf dem Programm, ein improvisiertes Theaterspiel aus dem Unterrichtsmodul „Körperwahrnehmung“. „Wer möchte die rosafarbene Brille aufsetzen?“, fragt Kathrin Leinweber. Amelie reckt als erste den Arm, schon sitzt die Brille auf ihrer Nase. Heiteres Gekicher. Und wer nimmt den schwarzen Zylinder? Keiner meldet sich, die schlechte Laune mag wohl niemand verkörpern. Doch, Lorenz hat Lust, setzt sich den Hut auf und geht gleich in die Vollen: stellt sich aufrecht hin, stemmt die Hände in die Taille und schiebt schmollend die Unterlippe vor. Dann schleudert er den Zylinder mit Wucht zu Boden. Lautes Lachen.

Jetzt Amelies Auftritt – die gute Laune: Sie stolziert auf und ab, schwingt dabei zaghaft die Hüften und hüpft ein paar Mal in die Luft – Ende der Vorstellung. Die Gefühlsaccessoires wandern in die Hände anderer Kinder, und die Pantomime geht noch eine Weile munter weiter.

„Wir wollen im Glücksunterricht nicht nur positives Denken und positive Gefühle stärken“, erklärt Kathrin Leinweber. „Die Kinder sollen auch lernen, unangenehme Gefühle zu begreifen und anzunehmen“. Was die Kinder trainieren sollen, bezeichnen Wissenschaftler als „Resilienz“ – eine Art Widerstandskraft, die Menschen dazu befähigt, schlechten Gefühlen nur wenig und kurz Aufmerksamkeit zu schenken, gute Emotionen dagegen zu verstärken. „Um das hinzubekommen, muss man zunächst lernen, seine Gefühle bewusst wahrzunehmen“, sagt Kathrin Leinweber.

Amina hat beim Theaterspiel begeistert durch die rosarote Brille geguckt. Warum ihr der Glücksunterricht so gut gefällt? „Weil das anders ist als Mathe, wo jeder nur für sich an seinem Platz sitzt“, sagt sie. Wenn’s ums Glück geht „dann macht die ganze Klasse was zusammen“. Das stärkt das Wir-Gefühl, noch ein wichtiger Baustein für ein erfülltes Leben.

„Wer weiß, dass er auf andere zählen kann, tut sich meist leichter. Denn das gibt Halt“, sagt Leinweber. Dafür verlegt sie die Glücksstunde auch gelegentlich in die Sporthalle. Dann muss ein Stabholz auf zwei abgespreizten Zeigefingern quer durch die Halle balanciert und von einem Kind zum anderen weitergereicht werden, ohne auf den Boden zu fallen. „Alle helfen mit. Es gibt nur eine Gruppe, Wettbewerb ausgeschlossen. Was zählt ist, dass es alle zusammen schaffen.“

Die Idee, das Glück in diese Grazer Grundschule zu bringen, stammt von Eva Chibici-Revneanu, Ko- ordinatorin für Persönlichkeitsbildung und psychosoziale Gesundheit an der Pädagogischen Hochschule Steiermark. Ihr ist es zu verdanken, dass mittlerweile im gesamten Bundesland Steiermark 78 „Glücksschulen“ unter dem Motto „Glück macht Schule“ das neue Lebensfach anbieten. Was im Jahr 2009 an sechs ausgewählten Pilotschulen begann, wird immer beliebter.

Inspiriert wurde Eva Chibici-Revneanu von Ernst Fritz-Schubert. Der Oberstudiendirektor aus Heidelberg war fassungslos angesichts einer Umfrage unter Schülern, nach der „Schule“ auf einer Beliebtheitsskala noch hinter der Zahnarztpraxis rangierte. So konzipierte er zusammen mit einem Expertenteam aus Vertretern der Positiven Psychologie das Schulfach „Glück“ und brachte es 2007 an seine, die Willy-Hellpach-Schule. Ein Fach, das Lebenskompetenz, Lebensfreude und Persönlichkeitsentwicklung fördern soll. so das von ihm formulierte Ziel.

In der Steiermark wird das Glücks-Know-how in unterschiedlichen Unterrichtsmodulen vermittelt. Dabei können die Glückspädagogen aus einem riesigen Fundus an Lehrmaterialien und Übungen schöpfen. Zwölf Schulstunden lang steht etwa die psychosoziale Gesundheit der Schüler im Zentrum, sie lernen, wie sie mit Konflikten oder Gefühlen umgehen, oder wie sie Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten gewinnen können. Wie man sich gesund ernährt und bewegt, vermitteln die Lehrer 16 Unterrichtsstunden lang in einem weiteren Modul. Schließlich gilt es, die Körperwahrnehmung der Schüler zu stärken, etwa mit Theater- und Rollenspielen oder Gesang. Diese Struktur gilt für alle Klassenstufen, von der 1. bis zur 10. Klasse. Das Curriculum mag auf den ersten Blick etwas beliebig wirken, doch umfasst es all die Glücksbringer, die Forscher heute für ein ausgefülltes Leben empfehlen.

Ob nun der Glücksunterricht Kinder tatsächlich besser fürs Leben wappnet? Die Antwort auf diese Frage steht noch aus. Die wenigen Studien, die es derzeit gibt, führten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Befragung von 78 Jugendlichen an der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg ergab, dass Schüler, die einmal pro Woche einer Wohlfühlstunde beigewohnt hatten, im Durchschnitt positiver in die Zukunft blickten und mehr Selbstvertrauen und Entschlossenheit zeigten als Schüler ohne Glückstraining.

Eine andere Studie von Wolfgang Knörzer von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der ein Jahr lang 28 Glückskinder und eine Kontrollgruppe ohne Glücksunterricht verglichen hat, liefert dagegen ein eher ernüchterndes Resultat: Die Glückskinder fühlten sich am Ende eher unglücklicher. Denn sie waren sich der negativen Einflüsse auf ihr Leben stärker bewusst und spürten die Kluft zwischen ihren eigenen Wünschen und der Realität deutlicher. Knörzer interpretiert das Ergebnis dennoch positiv. Er meint, die Glücksschüler seien mündiger – und erfüllten damit eine wichtige Voraussetzung, um später einmal das eigene Lebensglück zu finden.

Kathrin Leinweber sieht das ähnlich. Denn in ihrer praktischen Arbeit ist ihr nach fast zwei Jahren Glücksunterricht etwas Wichtiges aufgefallen: „Die Kinder kennen nun ihre Gefühle und Bedürfnisse besser und äußern sie mir gegenüber auch.“ Natür- lich könne das erst einmal unglücklich machen. „Trotzdem ist das ein wichtiges Fundament für Resilienz“, so die Lehrerin. „Darauf müssen wir als Lehrer dann aufbauen.“ Zudem spüre sie deutlich, dass ihre Schüler heute glücklicher sind. Als sie die Klasse vor zwei Jahren von einer Kollegin übernom- men hat, sei sie auf einen ziemlich „wilden Haufen“ gestoßen – heute herrsche dagegen eine tolle Klassengemeinschaft, ein respektvoller Umgang unter- einander, und es gebe deutlich weniger Konflikte unter den Schülern.

Ähnliche Aussagen sind wohl auch von den Lehrern der restlichen 77 Glücksschulen in der Steier- mark zu erwarten. Derzeit läuft dort eine große Befragung zur Qualität des Glücksunterrichts. Die Lehrer sind aufgerufen, ihren persönlichen Eindruck in Fragebögen wiederzugeben und auch die Aussagen der Kinder zu dokumentieren. Nur, welcher Lehrer gibt schon gerne zu, dass sein Unterricht nicht so gut ankommt? Und wie will man das Glück der Kinder überhaupt unabhängig von anderen Faktoren mes- sen? Vielleicht ist es, wie so oft in der Schule, vor allem der entspannte Lehrer, der zu größerem Wohlgefühl bei den Kindern führt? Oder die Tatsache, dass das Fach nicht benotet wird?

Sicher – die Studienlage mag noch dünn sein, doch am Ende bleibt der Augenschein: Wenn in Graz das Glück auf dem Stundenplan steht, herrscht unter den Schülern freudige Betriebsamkeit. Bei den meisten Kindern hat die Glücksstunde den Kunst- oder Sportunterricht vom 1. Platz auf der Beliebtheitsliste der Fächer verdrängt. Sicher keine allzu schlechte Voraussetzung: Wer sich häufig positiv erlebt, stärkt sein Selbstvertrauen – ein wichtiger Schritt in ein glückliches Leben.

 

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