Der Mythos vom großen Unterschied

 Manche Klischees halten sich besonders hartnäckig, zum Beispiel das vom harten Macker und dem schwachen Weibchen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings: So groß, wie lange Zeit angenommen, ist der Unterschied gar nicht. Text: Tania Greiner

Caveman weiß, wie Männer und Frauen ticken. Gibt es wieder einmal Krach zwischen Tom und Heike steht der Höhlenmensch mit patentem Rat zur Seite. Schließlich ist der Konfliktt zwischen Mann und Frau so alt wie die Menschheit. Da muss sich der Steinzeitahne also auskennen. Im Shoppingrausch, den das weibliche Geschlecht hin und wieder überfällt, sieht er eine moderne Fortsetzung steinzeitlichen Sammelns. Der tollkühne Jägersmann hatte eher schweigsam zu sein, während die für die Pflege sozialer Kontakte zuständige Steinzeitfrau unentwegt quasselte. Ganz egal, wie er und sie sich heute verhalten, Caveman hat dafür die passende evolutionsgeschichtliche Erklärung auf Lager. Der ahnungslose Tom lauscht aufmerksam. Und Millionen von Zuschauern tun es ihm gleich.

Der große Unterschied feiert große Erfolge. Seit vielen Jahren behauptet sich „Caveman“, das Ein-Mann-Theaterstück, am New Yorker Broadway als absoluter Kassenschlager. Bücher mit Titeln wie „Männer sind wie Waffeln, Frauen wie Spaghetti“, „Frauen reden anders, Männer auch“ oder „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einpar- ken“ gehen weg wie warme Semmeln. Die Autoren verkünden eine einfache Botschaft: Mann bleibt Mann, und Frau bleibt Frau, weil es die Natur so will. Mehr noch, Männer und Frauen würden sich auf unterschiedlichen Planeten aufhalten — wenn nur die Liebe nicht wäre. Die simple Erklärung für den großen Unterschied liefern die Beziehungsratgeber gleich mit: Männer und Frauen haben sich im Laufe der Evolution auf verschiedene Aufgaben spezialisiert und deshalb ganz unterschiedliche Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben erworben. Was zur Folge hatte, dass ihre Gehirne heute unterschiedlich strukturiert sind. Sogar Neurobiologen stützen neuerdings diese These vom großen Unterschied zwischen Mann und Frau. Aber haben sie wirklich Recht?

Archäologen, Anthropologen und Völkerkundler wissen schon lange, dass der Mann als Jäger und Ernährer nichts als ein Konstrukt der Forschungsgeschichte ist. „Diese Vorstellung geht vor allem auf Charles Darwin zurück“, erklärt Gerd-Christian Weniger, Direktor des Neanderthal-Museums in Mettmann bei Düsseldorf. Darwin war ein Kind seiner Zeit und ließ die damaligenVorstellungen einer sinnvollen, natürlichen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in seine Evolutionstheorie mit ein- fließen. Erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts begannen einige Ur- und Frühgeschichtler ihr Bild vom steinzeitlichen Familienleben zu überdenken. Sie rekonstruierten die Lebensweise in der Steinzeit nun anhand von Beobachtungen, die Völkerkundler bei noch existierenden Jäger- und Sammlergesell- schaften gemacht hatten. Dabei rückten auch mögliche Geschlechterrollen stärker in den Mittelpunkt. Das Resultat: Bei diesen Völkern gibt es zwar ebenfalls Formen von Arbeitsteilung, also Aufgaben, die nur von Männern oder Frauen erledigt werden. Sie sind nur wesentlich vielfältiger, eine klare Trennung in bärenstarke Jäger, die ihr Leben riskieren, um frisches Fleisch in die Höhle zu schleppen, und in zarte, häusliche Höhlenbewohnerinnen, die für die Aufzucht der Kinder sorgen und nur in der Nähe des Lagerplatzes Beeren pflücken, gibt es nicht und hat es offenbar nie gegeben.

Die amerikanische Archäologin und Expertin für Geschlechterrollen in der Steinzeit, Linda R. Owen, hat, einer Detektivin gleich, die wenigen Spuren der Steinzeitfrauen zusammengetragen. „Das schwache Geschlecht kann gar nicht so schwach gewesen sein“, bilanziert die Prähistorikerin von der Universität Tübingen. Denn für die in Kleingruppen lebenden Menschen war es überlebenswichtig, dass die elementaren Dinge alle gleichermaßen beherrschten. Owen verweist auf Studien an traditionell lebenden Inuit-Stämmen: Dort mussten Männer auf der Jagd offene Säume schnell selbst nähen können. Und wo die Er- nährung ganz entschieden von Fleisch und Fisch abhängt, mussten umgekehrt auch Frauen jagen können. „Es waren fast immer Frauen, die die schweren Lasten getragen haben“, so Owen. Auch bei vielen anderen Völkern erbeuteten die Pflanzen-Sammlerinnen, die nach Owens Meinung für bis zu 70 Prozent der Ernährung sorgten, zudem Kleinwild oder waren in die Großwild- jagden eingebunden. Es scheint, als hätten frühere Archäologen, natürlich meist männlich, der Vergangenheit ihre eigenen Wunschträume vom Heimchen am Herd übergestülpt. Doch obwohl das Steinzeit-Klischee vom Macho-Jäger längst widerlegt ist, ja sogar Museen diese Erkenntnisse in ihre Ausstellungen einfließen lassen, hält sich der Mythos vom großen Unterschied wacker. Und bekommt neuerdings wissenschaftliche Unterstützung aus einem anderen Fachgebiet.

Hirnforscher wollen nun die Ursachen für das, was Mann und Frau scheinbar meilenweit voneinander trennt, in der Chemie ihrer Gehirne gefunden haben. Dazu zählen Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge, Jill Goldstein von der Harvard Medical School sowie die US-amerikanische Neurobiologin Louann Brizendine, die mit ihrem Buch „Das weibliche Gehirn“ in den USA einen Bestseller landete.

Wenig später erschien das männliche Gegenstück, vor kurzem kam es auch in Deutschland unter dem Titel „Das männliche Gehirn“ auf den Markt. In Brizendines Büchern lernen wir zwei unterschiedliche Spezies kennen: „Homo testosteroniensis“ und „Homo oestrogeniensis“. Das weibliche Gehirn, zyklisch unter dem Einfluss weiblicher Hormone, nehme die Welt grundsätzlich anders wahr als das testosterongeflutete Denkorgan des Mannes, so Brizendine. Das führe gar zu eigenen Denkstilen, schon von Geburt an in die Gehirne von Jungen und Mädchen eingemeißelt: Männer denken in Systemen, Frauen erfassen die Welt mit Hilfe von Empathie, „einer fast übernatürlichen Fähigkeit, Gefühle und Geisteszustände an Gesichtsausdruck und Tonfall abzulesen“. Das verkauft sich gut, ob es stimmt, ist allerdings fraglich.

Das britische Fachblatt nature attestierte Brizendines Bestseller „Das weibliche Gehirn“ einen ungenauen Umgang mit wissenschaftlichen Daten. Denn ihre neurowissenschaftlichen Behauptungen stützen sich nicht selten auf Studien an Ratten. An ihnen zeigt sich sehr eindrucksvoll, wie durch Testosteron ein Tier zum echten Kerl werden kann. Das Hormon, um die Geburt herum von den Hoden ausgeschüttet, macht das Tier für immer zum Männchen. Nach einer Testosteron-Gabe werden sogar fünf Tage alte Rattenweibchen zu Jungs. Sie büßen dauerhaft ihre Fruchtbarkeit ein, tollen wilder mit den Geschwistern herum und verteidigen sich aggressiver. Allein, diese Beobachtungen lassen sich nur schwer auf den Homo sapiens übertragen. Sein Gehirn verfügt nicht nur über deutlich mehr Masse, sondern ist auch grundsätzlich mit seiner Hirnrinde höher entwickelt. Zudem ist das menschliche Denkorgan bei der Geburt viel weiter ausgereift als das einer Ratte. Dasselbe gilt für Affen, die uns in Wachstum, Entwicklung und Sozialleben viel ähnlicher sind als Ratten. Werden Affenmännchen oder -weibchen nach der Geburt Sexualhormone gegeben, wirken diese nur noch ge- ringfügig auf ihr Verhalten.

„Je größer ein Gehirn, desto weniger instinktgesteuert ist es und desto stärker sind seine Fähigkeiten von Lernvorgängen abhängig. Deshalb zeigen Hormone, die vor der Geburt aktiv sind, bei Affen weniger Wirkung als bei Ratten“, sagt Lise Eliot, Neurobiologin von der Chicago Medical School. Die US-Amerikanerin hat nun mit einem Buch eine um- fangreiche Antwort auf Louann Brizendines Thesen vorgelegt. „Wir müssen nicht Tiere, sondern Mädchen und Jungen untersuchen, wenn wir wirklich wissen wollen, inwieweit die Unterschiede zwischen ihnen hormonell bedingt sind.“ Kritisch sieht die Forscherin auch, dass fast alle Belege für Geschlechtsunterschiede, die die Hirnforschung bislang gefunden haben will, aus Studien mit erwachsenen Männern und Frauen stammen. „Wie kann man da behaupten, dass die Unterschiede angeboren sind, und nicht auf einem jahrzehntelangen Leben als Mann und Frau beruhen?“

Lise Eliot gibt sich nicht der Illusion hin, Frauen und Männer, Mädchen und Jungen seien von Grund auf gleich. Sie hat sich gezielt auf die Suche nach dem großen Unterschied gemacht. Bei ihren ausgiebigen Recherchen fand sie aber erstaunlich wenige Studien, die tatsächlich Hinweise auf signifikante Geschlechtsunterschiede im Gehirn liefern. Das Fazit ihrer Arbeit: Nach derzeitigem Forschungsstand gleichen sich die Gehirne von Mädchen und Jungen weit mehr, als die umfangreich erforschten Verhaltensunterschiede nahelegen. „Selbstverständlich gibt es einige Geschlechts- unterschiede, die wirklich angeboren sind“, erklärt Eliot. So ist bei der Geburt das Gehirn von Jungen im Durchschnitt größer als das von Mädchen. Nach der Geburt sind Jungen zweifellos aktiver und unruhiger als Mädchen. Sie können Sinnesreize oft weniger gut verarbeiten als weibliche Babys, lassen sich schwerer trösten und haben ein höheres Risiko zu erkranken oder kognitive Störungen zu entwickeln. Das mag vor allem daran liegen, dass neugeborene Mädchen etwas besser gerüstet sind, das Leben außerhalb des Mutterleibes zu meistern: Das Gehirn, ja der gesamte Körper, hat bei der Geburt einen deutlichen Reifungsvorsprung.

Und noch ein Geschlechtsunterschied ist, statistisch gesehen, nicht zu leugnen: Die markante Vorliebe für bestimme Spielsachen konnten Psychologen ebenfalls nachweisen. Auch gibt es recht gute Hinweise, dass der pränatale Einfluss des Testosterons dabei doch nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Das zeigt sich besonders gut, wenn der weibliche Embryo im Mutterleib einer genetisch bedingten hormonellen Störung ausgesetzt ist. Die sogenannte Nebennierenrindenhyperplasie (CAH) führt dazu, dass in einer frühen Schwangerschaftsphase große Mengen Testosteron ausgeschüttet werden. Die Folge: Die Klitoris vergrößert sich zu einem kleinen Penis, unter Umständen wachsen die Schamlippen zusammen. Da jedoch die inneren Geschlechtsorgane unbeschadet bleiben, können Mädchen mit CAH später dennoch Kinder bekommen, vorausgesetzt, ihre äußeren Geschlechtsorgane werden chirurgisch korrigiert. Als Kinder sind Mädchen mit CAH körperlich aktiver und rauflustiger. Am deutlichsten zeigt sich aber der Unterschied in ihren Spielsachen. Sie bevorzugen typische Jungenspielsachen wie Bagger und Baukas- ten und zeigen weniger Interesse an Säuglingen und Puppen, die auf kleine Mädchen üblicherweise eine große Faszination ausüben.

„Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass sich auch andere psychologische Unterschiede in derselben Größenordnung bewegen“, warnt Eliot. Nur, weil der eigene Sohn wild auf dem Bobbycar umherrast oder die Tochter beim Anblick eines Säuglings begeistert „Baby“ ruft, müssen nicht gleich massive Unterschiede im Einfühlungsvermögen oder im technischen Verständnis vorliegen.

„Unser Gehirn ist das, was wir mit ihm tun“, so Eliot. Anders gesagt: Der Mensch lernt aus Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens sammelt. Er erwirbt dabei kognitive Fertigkeiten wie Sprechen, Lesen, mathematisches und technisches Verständnis sowie zwischenmenschliche Fähigkeiten und Eigenschaften wie Aggressivität, Empathie oder Wagemut. „Je älter also Kinder sind, desto weniger können wir davon ausgehen, dass Verhaltensunterschiede ausschließlich auf Gene und Hormone zurückzuführen sind.“ Kirsten Jordan, Hirnforscherin an der Universität Göttingen, beschreibt es so: „Wir kommen mit einer zartrosa und hellblauen Tönung zur Welt. Unsere Erfahrungen, die Kultur, in der wir leben, vertiefen sie dann erst zu satten Farben.“ Es kommt also vor allem darauf an, wie sich Eltern, Erzieher oder Lehrer gegenüber dem Nachwuchs verhalten. Wir haben es in der Hand, entweder die feinen biologisch bedingten Unterschiede zu fördern und zu stärken oder eben bewusst gegenzusteuern.

Darin liege eine Chance, so Lise Eliot. Man müsse den Umgang mit Gefühlen, das Kartenlesen, Rechnen oder Sprechen also vor allem fördern und üben – gerade in jungen Jahren, wo in den kleinen Köpfen die Neuronen nur so sprießen. Denn allzu oft vergessen die Verfechter naturgegebener Geschlechterrollen eine wichtige Fähigkeit des menschlichen Gehirns: Es kann sich verblüffend schnell verändern. Es verfügt über eine erstaunliche neuronale Plastizität, wie Neurobiologen sagen. Lutz Jäncke, Neuropsychologe von der Universität Zürich, sieht darin sogar eine entscheidende evolutionäre Strategie des Homo sapiens. Anders als ein Tier, gestaltet der Mensch durch Kulturtechniken seine Lebenswelt selbst. Deshalb habe sich im Laufe der Evolution ein Gehirn herausgebildet, das sich immer wieder auf neue Situationen einstellen kann – ein Denkorgan für lebenslanges Lernen.

Vergleicht man die Studien der vergangenen 50 Jahre, wird besonders deutlich, wie flexibel das menschliche Oberstübchen tatsächlich ist. Die kog- nitiven Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden immer feiner. Frauen sind immer fixer beim Lösen räumlicher Aufgaben, Männer verbessern ihre verbalen Fähigkeiten. Der Grund: Die Geschlechter- rollen haben sich massiv gewandelt, die Unterschiede scheinen zu verschwinden (siehe Kasten links).

Und trotzdem scherzen wir Tag für Tag über einparkende Frauen und überforderte Männer beim Multitas- king, bekräftigen aufs Neue den Mythos vom großen Unterschied. Es scheint, als erfreue sich unser großes brillantes Gehirn an Kategorien, in die es die Welt eintei- len und sich damit das Leben leichter machen kann.

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