Das Wunder von Stonehenge
Wer in letzter Zeit auf der Landstraße A303 von London kommend gen Westen fuhr, wird nicht schlecht gestaunt haben, wenn er kurz hinter Amesbury nach rechts geschaut hat. Auf der Salisbury Ebene fuhren Traktoren kreuz und quer – allerdings nicht über den Acker, sondern auf der grünen Wiese. Und sie pflügten auch nichts um, säten, düngten oder rupften Unkraut. Statt Pflug oder Mähdrescher zogen sie eigentümliche Geräte hinter sich her, die scheinbar gar nichts taten. Sind die englischen Bauern etwa verrückt geworden?
Nein, denn sie arbeiten in diesem Fall nicht im Dienste der Landwirtschaft sondern im Dienste der Wissenschaft. Und wer Bescheid weiß, was da westlich von Amesbury in Straßennähe auf der grünen Wiese steht, ahnt auch schon, welcher Disziplin: Es geht um Archäologie. Denn dort steht das wohl berühmteste steinzeitliche Monument der Welt, Stonehenge.
Die Traktoren sind Teil eines revolutionären Projekts, dem „Stonehenge Hidden Landscape Project“. Sie ziehen modernste Sensoren über die Ebene – Magnetometer, Radar, 3D-Laserscanner –, die den Untergrund detailliert durchleuchten ohne auch nur eine Erdkrume zu lupfen. „Wir machen quasi eine virtuelle Ausgrabung, eine dreidimensionale Untergrundkarte von über zehn Quadratkilometern Fläche mit einer Auflösung von wenigen Millimetern“, sagt einer der Projektleiter, Wolfgang Neubauer vom Ludwig Boltzmann Institut für Archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie in Wien. „Das wurde so noch nie gemacht.“ Seit 2010 arbeiten Neubauer und seine Kollegen daran. Mit großem Erfolg: Sie haben Dinge im Boden entdeckt, die keiner für möglich hielt.
Und nicht nur sie waren erfolgreich. Auch zwei weitere groß angelegte Archäologieprojekte der letzten zehn Jahre, die mit eher klassischen Methoden abliefen – eines unter Leitung von Michael Parker Pearson vom University College London und eines unter David Jacques von der University of Buckingham -, haben Erstaunliches zutage gefördert. In der Zusammenschau ergibt sich von dem geheimnisvollen Relikt unserer Vorfahren ein völlig neues Bild.
Stonehenge. Allein der Name weckt schon Assoziationen. Tonnenschwere Monolithen, aus weiter Ferne in die Ebene von Salisbury gebracht, um sie in einem Zirkel aufzustellen und zu stapeln. Und das zu einer Zeit, als dies noch pure Handarbeit war. Große Fragen werfen diese Steine auf: Wer hatte das nur getan? Wie? Und vor allem: Warum?
Unzählige Theorien wurden im Lauf der Zeit aufgestellt. Früher dachte man, Riesen hätten Stonehenge erbaut oder der berühmte Merlin mit seiner Zauberkraft. In neuerer Zeit wurden auch die Kelten in Betracht gezogen – und Außerirdische. Ein Druiden-Tempel soll es gewesen sein, ein astronomisches Observatorium, eine Begräbnisstätte, ein Kult- und Weiheplatz, ein Schrein, um Könige zu krönen.
Doch das alles ist nun mehr oder weniger obsolet geworden: „Alles, was zuvor über die Stonehenge-Landschaft und seine alten Monumente geschrieben wurde, muss umgeschrieben werden“, sagt der leitende Historiker des Hidden Landscape Projekts Paul Garwood von der University of Birmingham.
Schon länger wissen wir heute, dass die großen Steine, die das Bild von Stonehenge prägen, ungefähr 2500 v. Chr. aufgestellt wurden, also lange vor Merlins Zeit. Die kleineren Steine sogar noch früher, 2600 v. Chr. Und der Erdwall und der Graben, die die Steine umgeben, existierten selbst da schon 500 Jahre. Solche „Henges“, deren Monumente oft auch aus Holzpfählen statt Steinen bestanden, waren in der Steinzeit auf den britischen Inseln weit verbreitet, um rituelle Stätten von der Außenwelt abzugrenzen.
In der weiteren Umgebung von Stonehenge hatte man schon vor Längerem weitere Monumente aus jener Zeit identifiziert; seit 1986 gehören sie mit Stonehenge zum Weltkulturerbe. Durrington Walls etwa, ein 500 Meter durchmessender Superhenge drei Kilometer nordöstlich. Oder der „Große Cursus“, ein langgezogener Rundgraben mit einzelnen Lücken, der 700 Meter nördlich von Stonehenge eine Fläche von knapp drei Kilometern mal 150 Metern einschließt. Beide wurden sogar schon vor der frühsten Stonehenge-Phase angelegt. Wozu und ob sie in Beziehung zu Stonehenge stehen, blieb bis zuletzt jedoch unklar.
Während also die Alten Ägypter tausende Kilometer südlich bereits eine pharaonische Hochkultur erlebten, steckte das heutige Großbritannien noch in der Steinzeit; in den letzten Zügen des Neolithikums, um genau zu sein. In dieser „Jungsteinzeit“ wurden die Jäger und Sammler langsam sesshaft, entdeckten die Vorzüge der Land- und Viehwirtschaft und entwickelten die Keramik. Aber sie kannten noch kein Rad, kein Metall und keine Schrift. Im Vorderen Orient und Südeuropa war man da deutlich früher dran. Die Briten, deren Heimat um 8000 v. Chr. durch das Ansteigen der Nordsee zur Insel geworden war, hinkten kulturell etwas hinterher.
Umso erstaunlicher die Leistung, ein Monument wie Stonehenge zu schaffen. Die größten Monolithen des Ensembles sind sogenannte Sarsensteine, eine Art von Sandstein. Sie wiegen bis zu 50 Tonnen und stammen, wie geochemische Analysen nachweisen, aus den Marlborough Downs, einer Hügellandschaft rund 45 Kilometer nördlich von Stonehenge. Die etwas kleineren, „nur“ rund vier Tonnen schweren „Blausteine“ aus Basalt stammen sogar von noch weiter her: aus den Preseli Mountains in Wales, rund 250 Kilometer westlich.
Ganze Generationen von Forschern haben diskutiert und ausprobiert, wie die Felsen damals so weit transportiert worden sein könnten. Gezogen, auf Balken gerollt oder auf Sänften-artigen Holzgestellen getragen – klar ist heute, dass es unter Mitwirken hunderter Arbeiter mit verschiedenen damals verfügbaren Technologien machbar war und wohl über Land geschah. Bootsfahrten erscheinen aus heutiger Sicht bei diesem Gewicht und der rauen britischen See zu gefährlich.
Beeindruckend ist auch die Kunstfertigkeit, mit der die Steinmetze den Ring anlegten: Obwohl er 30 Meter Durchmesser hat, ist er auf wenige Zentimeter genau eben und symmetrisch. Die quer aufliegenden Decksteine sind mit Fassung und Nut nach Zimmermannsart gegen Verrutschen gesichert. In manche Steine sind Gravuren eingemeißelt, von denen viele erst jüngst per Laserscan entdeckt wurden: Bilder von Äxten und Dolchen. Und das, obwohl Sarsen weit schwerer zu bearbeiten ist als Holz. Er ist härter als Granit.
Noch dazu ist der Steinkreis exakt nach dem Stand der Sonne zur Sonnenwende ausgerichtet: Der Eingang und der ihm vorgelagerte sogenannte Fersenstein zeigen genau zur aufgehenden Sonne am längsten Tag des Jahres, dem 21. Juni. Der Zugangspfad, „Avenue“ genannt, verlief exakt entlang dieser Achse. Und eine andere Achse des Zirkels zeigt in Richtung des Sonnenuntergangs an diesem Tag. Diese Ausrichtung an der Sonnenwende ließ viele Experten an einen astronomischen Hintergrund des Monuments glauben.
Es gab in Großbritannien in jener Zeit an die tausend Steinkreise. Doch die Präzision von Stonehenge, die Symmetrie und die Tatsache, dass hier auch Quersteine obenauf gelegt wurden, macht Stonehenge einzigartig. „Eine solche Anlage hätte man niemals ohne einen präzisen Plan bauen können“, sagt der Experimentalarchäologe Anthony Johnson von der University of Oxford, der den Bau von Stonehenge erforscht und nachgestellt hat. Die Menschen damals hatten also bereits komplexe Geometriekenntnisse - 2000 Jahre bevor die Alten Griechen den Begriff Mathematik überhaupt definierten.
Schätzungen zufolge erforderte der Bau insgesamt mehrere Millionen Mannstunden Arbeit. Ein Aufwand, der umso unglaublicher klingt, wenn man bedenkt, dass die Steinzeitclans weit verstreut lebten – auf der ganzen Erde soll es damals nur fünf Millionen Menschen gegeben haben, auf den britischen Inseln allein wenige Zehntausend.
Für Stonehenge mussten also relativ viele Steinzeitmenschen Clan-übergreifend zusammenarbeiten. Was trieb sie dazu und warum gerade auf der Ebene von Salisbury?
Dazu brachten die neuen Forschungsprojekte wesentliche Erkenntnisse: „2008 haben wir entdeckt, dass die Avenue, eine Art Zeremonialpfad der über zwei Biegungen bis zum Ufer des nahen Flusses Avon führte, auf einem natürlichen Geländemerkmal erbaut war“, erzählt Mike Parker Pearson. Eine glaziale Schmelzwasserrinne, die zufällig auf einer Linie stand mit dem Sonnenaufgang bei Sommersonnenwende und dem Sonnenuntergang bei Wintersonnenwende. „Das muss den Menschen damals als eine Art Zeichen der Götter aufgefallen sein, denn die Sonnenwenden hatten eine große rituelle Bedeutung.“
Noch bemerkenswerter jedoch ist ein Fund etwa drei Kilometer entfernt von Stonehenge im Wald von Blick Mead - einen Steinwurf weit von der Stelle, wo einst die Avenue am Fluss endete. Lange Zeit hatte dort kein Archäologe gegraben, weil der Wald zum Park eines Herrenhauses am Ortsrand von Amesbury gehörte. Man ging davon aus, dass eventuelle steinzeitliche Spuren von der Landschaftsgärtnerei des Adels zerstört worden seien, im Übrigen ließen die Besitzer keine Ausgrabungen zu.
Doch Archäologe David Jacques erhielt vor gut zehn Jahren die Erlaubnis. In jahrelanger Arbeit fand sein Team nicht nur jede Menge Steinwerkzeuge und tausende Knochen von Rindern und anderem Großwild, das offenbar zubereitet und verspeist worden war. Die Forscher förderten auch die Überreste einer Behausung an einem im Dickicht verborgenen Tümpel zutage, der von einer warmen Quelle gespeist wird. Die Datierung war eine Sensation: 4290 v. Chr. - das älteste bekannte Haus Großbritanniens. Die anderen Relikte wiesen sogar noch tiefer in die Vergangenheit: „Wir konnten an dieser Stelle eine kontinuierliche Aktivität von 7500 v. Chr. bis 4300 v. Chr. nachweisen“, so Jacques.
Doch es kam noch besser: Am Grund des Tümpels fanden die Forscher Feuersteine, die eindeutig künstlich aufgeschichtet worden waren und Schiefersteine, die in der Gegend gar nicht vorkommen. Und als die Archäologen die Steine aus dem Wasser nahmen, geschah das erstaunlichste überhaupt: Sie verfärbten sich nach kurzer Zeit pink!
Biochemische Analysen offenbarten, dass der wundersame Effekt von einer Alge hervorgerufen wird, die die Steine in diesem Tümpel besiedelt: Hildenbrandia rivularis. An der frischen Luft stirbt sie ab und wird zu einem flamingofarbenen Biofilm. Gut möglich, dass sie hier schon in der Steinzeit vorkam. „Wie einzigartig muss dieser Effekt den Menschen des Mesolithikums erschienen sein?!“, fragt Jacques. „Ihr Leben spielte sich sonst fast nur in Braun, Grün, Schwarz und Weiß ab.“
Vielleicht maßen die Steinzeit-Menschen also auch wegen dieses Wunders der Gegend von Stonehenge besondere Bedeutung zu. „Ich glaube, dass wir hier die Wiege von Stonehenge gefunden haben“, meint Jacques. Die Blick Mead-Siedler könnten es also gewesen sein, die die Schmelzwasserrinne vorfanden und mit dem Bau von Stonehenge begannen. Auf der lichten Ebene war das Monument weithin sichtbar – insbesondere später der Steinkreis. Frisch behauene Sarsensteine sind nämlich schneeweiß. Der Steinkreis muss anfangs wie magisch gestrahlt haben. Erst über die Jahrtausende ist er durch Verwitterung ergraut.
Lange Zeit dachte man, die unmittelbare Umgebung von Stonehenge sei eine Art sakrale Tabuzone gewesen, wo nichts anderes gebaut wurde, damit das Heiligtum wirken kann. „Jetzt wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Vincent Gaffney von der University of Bradford, der das Hidden Landscape Projekt gemeinsam mit Wolfgang Neubauer aus Wien archäologisch leitet. „Unsere Sensoren haben bis einige Meter tief in der Erde jede künstliche Veränderung in den verschiedenen Bodenschichten registriert. Die Ergebnisse zeigen, dass damals auch die nähere Umgebung von Stonehenge geradezu übersät war mit weiteren Monumenten. Wir haben es hier nicht mit einem isolierten Heiligtum, sondern einer ganzen rituellen Landschaft mit Stonehenge im Zentrum zu tun, die eine viel längere Geschichte hat als gedacht!“
17 weitere Henges und Dutzende Grabhügel, wie sie seinerzeit für die Bestattung der Toten üblich waren, haben die Forscher aufgespürt. Dazu weitere künstlichen Wälle und Vertiefungen. Zuletzt sogar eine Steinreihe, die am südlichen Erdwall von Durrington Walls entlangführte und mindestens 90, womöglich aber auch 200 bis zu 4,5 Meter große Monolithen zählte. Sie liegen metertief unter der Erde, man vermutet, dass diese Struktur älter ist als Stonehenge. Wozu sie diente, ist noch unklar. Die Archäologen hoffen, dass sie bald die Genehmigung bekommen, einige Steine auszugraben.
Im Großen Cursus fanden Neubauer und Gaffney zwei Gruben, von denen heute an der Oberfläche nichts mehr zu sehen ist. Sie waren fünf Meter breit, 1,5 Meter tief und exakt an jenen Stellen platziert, die mit Stonehenge auf einer Linie zum Sonnenauf- und -untergang bei der Sommersonnenwende stehen. „Der Cursus ist also in Zusammenhang mit Stonehenge zu sehen“, schlussfolgert Gaffney.
Wobei nicht überrasche, dass er lange vor Stonehenge angelegt wurde. Denn unter dem früheren Besucher-Parkplatz fand man drei längst verschüttete Pfostenlöcher, die laut eingehender Analyse sogar noch viel älter sind: um 8000 v. Chr. „Das ist die älteste menschengemachte Struktur, die wir auf den britischen Inseln kennen“, so Gaffney. Er vermutet, dass darin so etwas wie Totempfähle steckten. Neben Grabhügeln fanden sich in der Gegend nämlich überall auch Asche und Knochenreste von Feuerbestattungen aus verschiedensten Zeiten. Es ist also klar, dass in Stonehenge und Umgebung über Jahrtausende hinweg Tote rituell begraben wurden. An einem gut erhaltenen Skelett fand man sogar charakteristische Pfeilspuren, die auf die gezielte Opferung eines Menschen hinweisen.
Mike Parker Pearson verweist darauf, dass manche Naturvölker noch heute Steine als Symbol der Toten ansehen und Holz als Symbol der Lebenden. Stonehenge könne damals das Reich der Toten repräsentiert haben. Und der „Woodhenge“ ein Henge mit einem Holzkreis, den man unmittelbar neben Durrington Walls fand, das Reich der Lebenden. Über den Fluss Avon und die Avenue hätte es dann Umzüge nach Stonehenge zur Beisetzung hochrangiger Toter gegeben.
In dieses Bild passt eine gezielte Grabung von Parker Pearsons Team: Aus einem neolithischen Pfostenloch am Fuß des Stonehenge-Erdwalls hoben sie einen Haufen tausender verkohlter Knochenreste. In den 1920er Jahren hatten Archäologen diese über die Anlage verteilt gefunden und dort wieder vergraben und mit einer gravierten Steintafel markiert, weil man mit solchen Fragmenten damals noch nichts anfangen konnte.
Dank moderner Analysemethoden und einer riesigen Puzzlearbeit ließen sich die verkohlten Stückchen nun jedoch Individuen zuordnen, Geschlecht, Alter und Lebensstandard bestimmen. „Wir konnten über 60 Tote identifizieren, die vornehmlich männlich, zwischen 25 und 40 Jahre und zu Lebzeiten recht gesund waren“, sagt die auf solche Analysen spezialisierte Jacqueline McKinley von Wessex Archaeology. Womöglich habe es sich um auserwählte Tote gehandelt, „zum Beispiel Persönlichkeiten königlicher Abstammung“, spekuliert Parker Pearson. Das Begräbnis in Stonehenge wäre Clan-Oberhäuptern vorbehalten und die anderen Steinkreise in England womöglich entsprechende Grabstätten anderer Clans gewesen.
Wobei Stonehenge überregionale Bedeutung gehabt haben muss. Und zwar nicht nur als Grabstätte. Die Archäologen fanden auch jede Menge Überreste von Tieren, die - wenn man bei der Altersbestimmung von einer Geburt im Frühling ausgeht - vornehmlich rund um die Sommer- und Wintersonnenwende geschlachtet worden sein müssen. Isoptopenanalysen, anhand derer man aus Zähnen und Knochen auf die Herkunft von Mensch und Tier schließen kann, zeigen: Die Rinder und Schweine müssen aus allen Regionen Britanniens, selbst aus den schottischen Highlands, nach Stonehenge getrieben worden sein, um sie dort bei den Feierlichkeiten zu essen. Auch Essensreste in Tonscherben, zum Beispiel von Milch und Käse, hat man entdeckt. „Alles Belege für ein überraschend gut organisiertes Catering“, urteilt Parker Pearson.
Außerdem fanden sich im Henge von Durrington Walls Spuren von einem Dutzend Behausungen. Vermutlich haben dort insgesamt sogar bis zu 300 Hütten gestanden – zu eben jener Zeit, als der große Steinkreis von Stonehenge errichtet wurde. „Wir denken, wir haben hier das Dorf der Erbauer gefunden“, sagt Parker Pearson. Die Spuren deuten daraufhin, dass es nach wenigen Jahrzehnten schon wieder aufgegeben wurde – womöglich dann, als der Steinkreis vollendet war. Nichtsdestotrotz war es damals die größte Siedlung in Nordwesteuropa.
Einige der Menschen stammten aus dem Alpenraum, einige hatten Geräte wie etwa den Armschutz eines Bogenschützen dabei, von dem man weiß, dass er im Raum des heutigen Spaniens hergestellt wurde. „Stonehenge war also selbst zur damaligen Zeit ein internationaler Ort“ sagt Vincent Gaffney, „eine Begegnungsstätte, zu der die Menschen anlässlich der Sonnenwenden zu Tausenden von weither anreisten, um große Feste zu feiern.“
Gaffney glaubt, der Cursus sei ein ritueller Prozessionsweg gewesen, der Teil einer tagelangen Zeremonie auf der gesamten Stonehenge-Landschaft war - ähnlich wie man es heute von der Haddsch-Prozession in Saudi-Arabien kennt. „Die vielen Henges der Umgebung waren kleine Kapellen, zu denen die Pilger geführt wurden.“ Im großen Steinkreis als oberstem Heiligtum hätten wohl nur die obersten Priester Zutritt gehabt, aber darum herum wären Opfer-, Begräbnis- und andere Riten abgehalten worden – und dies alles zur rechten Zeit, die der Steinkreis mit seiner astronomischen Ausrichtung einläutete.
Mit anderen Worten: Was heute für Muslime Mekka ist, war für die Steinzeit-Menschen Britanniens vor 4500 Jahren Stonehenge. Ein Wallfahrtsort, der „damals die Völker Britanniens vereinte“, wie Mike Parker Pearson bestätigt. Das zumindest sei die aktuelle Interpretation aller Daten, so Gaffney.
Die Blüte dauerte jedoch insgesamt wohl nur wenige hundert Jahre an. Ab 2400 v. Chr. breitete sich die Glockenbecherkultur aus Zentraleuropa auf die britischen Inseln aus. „Sie hatten Werkzeuge und Waffen aus Metall, kannten das Rad und brachten auch einen völlig anderen Lebensstil mit“, sagt Mike Parker Pearson. „Diese Kultur war individualistischer, versammelte sich nicht zentral und war auch nicht bereit, in Massen zum Wohl der Obrigkeit zu schuften.“ Der Monumentbau in Britannien kam bis etwa 2200 v. Chr. zum Erliegen.
Auch wenn Stonehenge noch hunderte weitere Jahre für verschiedene Zwecke genutzt wurde – letztlich war der Steinkreis also schon vor 4000 Jahren nur noch ein rätselhaftes Andenken an eine verlorene Zivilisation.