Was war vor dem Urknall?

Was war vor dem Urknall? Was geschah vor jener Zeit, als das ganze Universum kleiner als ein Staubkorn war? Was ereignete sich, ehe dieses Staubkorn in einer unvorstellbaren Explosion auseinanderstob - und unsere Welt schuf? Eine gigantische Welt voller Galaxien, Sterne, Planeten - und Menschen.

Die Antwort schien lange Zeit einfach: Nichts; vor dem Urknall gab es nur das Nichts. Schon die Frage danach sei sinnlos, beschied der berühmte Physiker Stephen Hawking 1988 in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“: „Nach der Zeit vor dem Urknall zu fragen, ist so unsinnig wie die Frage: Was ist nördlich vom Nordpol?“ Mit dem Großen Knall, so die gängige Theorie, entstand nämlich nicht nur unser Universum, also der Raum mit aller Materie darin, sondern auch die Zeit selbst. Ein „Vorher“ kann es demnach nicht gegeben haben.

Doch diese vermeintliche Gewissheit könnte sich bald auf dem Haufen überholter Wissenschaftsideen wiederfinden. Immer mehr Forscher glauben nämlich inzwischen, dass es vor dem Urknall sehr wohl etwas gegeben hat. Nach dieser neuen Theorie hätte die Zeit schon immer existiert, weil bereits vor dem Urknall ein Universum existierte: Eines das spiegelgleich zu unserem statt zu expandieren in sich zusammenstürzte.

Spuren dieses Vorgänger-Universums sollen heute noch an unserem Himmel zu sehen sein. Ultrasensible Raumsonden, die schon im All unterwegs sind oder demnächst starten, werden unseren Himmel danach absuchen. Eine erste Spur glaubt der britische Astrophysiker Roger Penrose schon jetzt entdeckt zu haben: Ende letzten Jahres analysierte er die Daten der US-Sonde Wilkinson Microwave Anisotropy Probe (WMAP). Diese hat quasi Wärmebilder von der so genannten Hintergrundstrahlung gemacht, die als Restwärme des Urknalls das ganze Weltall durchströmt. Penrose fand darin auffällige konzentrische Ringe, an denen die Temperatur signifikant weniger schwankt. Und er vermutet, diese Strukturen könnten nur von Kollisionen Schwarzer Löcher im Spiegeluniversum stammen.

Es bedarf zwar weiterer Messungen, um die Existenz und Herkunft dieser Ringe eindeutig zu bestätigen. Sollte dies gelingen und die neue Theorie sich auf diese Weise bestätigen, wird unser kosmologisches Weltbild allerdings abermals auf den Kopf gestellt.

Dazu sollten wir uns das geltende Weltbild noch einmal kurz vor Augen führen: Demnach fand unser Universum vor 13,7 Milliarden Jahren im Urknall seinen Ursprung: Zu Anfang war alles – Raum, Materie und Zeit – auf einen unendlich kleinen, unendlich dichten und unendlich heißen Punkt zusammengepresst; eine Anomalie im Nichts, von Astronomen „Singularität“ genannt. Aus irgendeinem Grund begann dieser Punkt sich explosionsartig auszudehnen. Während der expandierende Raum sich abkühlte, fanden Myriaden von Elementarteilchen erst zu Atomen und später zu Sternen, Planeten und Galaxien zusammen. Mindestens einer der zahllosen Planeten sollte in der Folge sogar Leben und denkende Wesen hervorbringen, die sich nun Gedanken darüber machen, wie alles anfing.

Diese so genannte Urknalltheorie gilt als ziemlich gesichert: „Dass unser Universum aus einem dichten Feuerball heraus entstand, bezweifelt niemand mehr ernsthaft,“ sagt der britische Astronom Martin Rees von der Cambridge University. „Die Urknalltheorie ist besser nachgewiesen als die Erdgeschichte oder die Evolution irdischen Lebens.“

Doch ein kleiner Makel haftet ihr an – ein unendlich kleiner sozusagen: die Singularität. Dieser Anfang vom Anfang, ein ausdehnungsloser Punkt, in dem alle Masse und Raumzeit vereinigt waren, unendlich heiß, unendlich dicht, ist mit herkömmlicher Physik nicht erklärbar. Die Allgemeine Relativitätstheorie, das berühmte Formelwerk Albert Einsteins, das die großräumigen Vorgänge im Universum seit dem Urknall so zuverlässig beschreibt, läuft zwar auf diesen Ursprung des Alls hinaus, doch erklären kann sie ihn nicht: „An diesem Punkt wird das Universum derart dicht, dass die mathematischen Gleichungen einfach nicht mehr gelten“, erläutert Abhay Ashtekar, Direktor des Institutes für Gravitationsphysik an der Pennsylvania State University in den USA. Wenn Billionen von Sonnenmassen auf die Größe eines Protons komprimiert werden, breche die Theorie einfach zusammen.

Nicht zuletzt deswegen tüfteln Astrophysiker und Mathematiker inzwischen an alternativen Theorien – Formelwerken, die an der Singularität nicht zerschellen. Der derzeit heißeste Kandidat dafür ist die so genannte Schleifen-Quantengravitation, die Ashtekar mit begründet hat. Sie versucht, die Relativitätstheorie, welche die von der Gravitation bestimmte Entwicklung der Raumzeit beschreibt, mit der Quantentheorie zu vereinheitlichen, die wiederum die von Quanteneffekten dominierten Vorgänge in der Teilchenphysik beschreibt. Jede für sich funktioniert gut in ihrer Welt – die Relativitätstheorie im Großen, die Quantentheorie im Kleinen – aber zusammen ergeben ihre mathematischen Gleichungen bislang einfach keinen Sinn.

Die Schleifen-Quantengravitation jedoch, auch „Loop-Theorie“ genannt, könnte einen Ausweg bieten. Während in der Quantentheorie Elementarteilchen wie Elektronen und Protonen die Grundbausteine der Materie bilden, teilt die Loop-Theorie auch die Raumzeit in kleinste Einheiten auf: ringförmige Schleifen. Diese winzigen Schleifen sind mit der Raumzeit verwoben wie Maschen zu einem Strickpullover – wobei die Materieteilchen wie Elektronen und Protonen sozusagen Knoten in diesem Raumzeitgewebe darstellen.

Die wichtigste Eigenschaft der Raumzeit-Struktur, die daraus folgt, ist die Diskretheit. Das bedeutet, dass der Raum nicht kontinuierlich verläuft, sondern eine Körnigkeit aufweist, die jedoch unmerklich ist, weil jedes Korn nur wenig mehr als 10 hoch -33 (ein billionstel trilliardstel) Zentimeter groß ist. Das entspricht einer „Planck-Länge“, benannt nach dem deutschen Physiker Max Planck, der vor gut 100 Jahren erkannte, dass die Naturgesetze nur bis zu bestimmten Untergrenzen von Größen wie Länge, Masse und Temperatur anwendbar sind: kleiner geht also physikalisch gesehen nicht.

Analog ist auch die Zeit im Modell der Loop-Theorie nicht fließend, sondern sie tickt quasi wie eine Uhr, wobei jedes Ticken kaum mehr als eine Planck-Zeit dauert: rund 10 hoch -43 Sekunden. Auch das nehmen wir selbst in den aufwändigsten Hochgeschwindigkeits-Experimenten nicht wahr – ähnlich wie ein Film fließend wirkt, obwohl er aus 25 Standbildern pro Sekunde besteht.

„Diese Diskretheit der Raumzeit ermöglicht es, die Singularität sozusagen zu überspringen“, sagt der deutsche Astrophysiker Martin Bojowald, der im Team von Abhay Ashtekar gearbeitet hat und als erster die Gleichungen der Loop-Theorie auf den Urknall angewendet hat. Bojowalds Berechnungen für die Zeit bis dorthin zurück ergaben, dass die winzigen Schleifen sich bei der Komprimierung der Raumzeit auf Planck-Skalen einer weiteren Verdichtung widersetzen. Die alles zusammenziehende Gravitation verwandelt sich vielmehr durch Quanteneffekte vorübergehend in eine stark abstoßende Kraft: „Der Raum gleicht einem porösen Schwamm“, erklärt Bojowald, „Masse und Energie dagegen gleichen Wasser. Der Schwamm kann nur eine bestimmte Wassermenge aufnehmen. Ist er vollgesogen, endet die Aufnahme, und er stößt weiteres Wasser nach außen ab. Beim Universum aber gibt es kein Außen, deshalb bleibt als einzige Möglichkeit, die Kraftrichtung umzukehren.“

Das bedeutet, dass die Materiedichte beim Urknall – den die Loop-Theorie als solchen nicht in Zweifel zieht – extrem hoch, aber nicht unendlich (und damit nicht unerklärlich) war. Es bedeutet zudem, dass ein Universum, das auf diese winzige Größe komprimiert wird, sich wieder explosionsartig ausdehnt. Sprich: „Vor dem Urknall existierte vielleicht ein Universum wie unseres“, so Bojowald, „allerdings nicht expandierend, sondern kollabierend.“ Der Urknall unseres Kosmos war demnach gleichzeitig quasi der Endknall eines anderen. Und der Blick in die Vergangenheit unserer Welt endet nicht in einer unerklärlichen Singularität, sondern mündet über einen winzigen Durchschlupf in einem Vorgängeruniversum.

Vorstellen könne man sich das wie einen Luftballon, dem die Luft entweicht, und der sich am Ende umstülpt und wieder aufbläht, so dass jetzt die Innenseite außen ist und links nun rechts. Das Vorgängeruniversum war sozusagen ein auf links gedrehtes Spiegelbild unserer Heimatwelt. „Unser Universum hatte also keinen Anfang“, resümiert Bojowald, „es existierte immer schon.“

Wobei nicht klar ist, ob der Kosmos einem ewigen Zyklus aus Aufblähen und Zusammenziehen unterliegt, so wie es auch andere Astronomen schon vorgeschlagen haben. Dazu müsste sich die aktuelle Expansion des Raums irgendwann in ferner Zukunft wieder umkehren. Das könnte zum Beispiel geschehen, weil die Gravitation der vielen Galaxien im Weltraum wieder Überhand gewinnt oder weil die ominöse Dunkle Energie, die den Großteil unseres Universums ausmacht und die Expansion antreibt, ihre Kraft verliert. „Um vorauszusehen, ob dies passieren wird, wissen wir über unser All und speziell die Dunkle Energie noch zu wenig“, sagt Martin Bojowald. „Momentan sieht es eher aus, als würde unser Universum bis in alle Ewigkeit expandieren, und entsprechend wäre auch das Spiegeluniversum aus der Unendlichkeit gekommen. Der Umschwung wäre dann ein einmaliges Ereignis gewesen.“

Aber wie sähe so ein Spiegeluniversum eigentlich aus? „Im Prinzip genauso wie unseres“, sagt Lee Smolin, Physiker am Perimeter Institute im belgischen Waterloo, der ebenfalls an der Entwicklung der Loop-Theorie mitgewirkt hat. „Denn die meisten Eigenschaften eines Universums und die Naturgesetze sind symmetrisch für einen Wechsel von links auf rechts.“ Zwar würden einige Phänomene im Quantenbereich anders ablaufen: Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen, Zerfallsraten von Elementen und bestimmte Reaktionen. Für die meisten Vorgänge im All aber macht das keinen Unterschied. „Auch die Biochemie wäre davon wahrscheinlich unbeeinflusst“, sagt Martin Bojowald. „Selbst Leben ist daher in dem Spiegeluniversum denkbar.“

Bleibt eine wesentliche Frage: Diese ganzen Überlegungen basieren auf physikalischen Erwägungen und mathematischen Berechnungen. Wo aber sind die konkreten, messbaren Beweise? Denn Theorien für Universen jenseits des Urknalls gibt es genug. Sie haben jedoch die unangenehme Gemeinsamkeit, dass sie sich kaum überprüfen lassen.

Anders bei Bojowalds Modell des „Urschwungs“, wie es auch genannt wird: „Es ist die klarste Herleitung eines Vor-Urknall-Szenarios, die irgendeine physikalische Theorie bislang geliefert hat“, findet Thomas Thiemann vom Max-Planck Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. Roger Penroses Entdeckung der konzentrischen Ringe in der vom Urknall stammenden Hintergrundstrahlung soll nur der Anfang sein. Weitere Indizien könnten bald folgen.

Liefern sollen diese Hinweise zum Beispiel Gravitationswellen, Gammastrahlen und Neutrinos – allesamt Boten des Urknalls, die damals ins All gesendet wurden und noch heute mit modernen Teleskopen und Detektoren zu empfangen sind. „Wenn wir auch nur winzige Abweichungen in der Intensitätsverteilung von verschieden frequenter Strahlung gegenüber dem messen, was die Allgemeine Relativitätstheorie vorhersagt, könnte dies Aufschluss geben“, erläutert Martin Bojowald. „Zum einen über die Diskretheit der Raumzeit – es wäre ablesbar, ob die Expansion des Raumes kontinuierlich oder, wie von der Loop-Theorie vorhergesagt, schrittweise stattfindet – und zum anderen über die Urschwungphase.“

Bisherige Messungen, inklusive der Daten von WMAP, auf die sich Penrose mit seiner Entdeckung stützt, sind noch nicht genau genug, um die auf Basis der Loop-Theorie erwarteten, kaum merklichen Effekte sicher identifizieren zu können. Doch die Hoffnungen sind groß, dass neue Weltraumteleskope dies ändern werden: So startete etwa 2009 das Planck-Teleskop der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA, das die Hintergrundstrahlung nochmal in viel höherer Auflösung durchmustert als WMAP. Auch das Fermi Gamma-Ray Space Telescope (FGST) der NASA, 2008 ins All geschossen, verspricht einiges: Es analysiert Gammastrahlenquellen wie Schwarze Löcher oder Sternenexplosionen. In deren Strahlung könnte es bestimmte Streuungseffekte geben, die die Loop-Theorie vorhersagt – womöglich auch eine Abweichung in der Geschwindigkeit des Lichts.

Außerdem erwarten Astronomen, demnächst erstmals die Existenz von Gravitationswellen nachzuweisen. Laut Relativitätstheorie sollten solche Wellen bei jeder Beschleunigung von Massen entstehen und bei ihrer Ausbreitung den Raum stauchen und strecken. Allerdings ist die Stärke des Effekts so gering – es geht um Raumverzerrungen, die kleiner sind als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms - dass mit bestehenden erdgebundenen Detektoren wie dem Laser-Interferometer Gravitationswellen-Observatorium (LIGO) in den USAallenfalls die Auswirkungen gigantischer Massebeschleunigungen wie die von Sternenexplosionen oder kollidierenden Galaxien messbar sind. Auch vom Urknall müssten solche Wellen noch durchs All wabern, weil sie – anders als elektromagnetische Strahlung alle Materie weitgehend ohne Streuung durchlaufen. Allerdings haben die Gravitationswellen des Urknalls voraussichtlich eine derart große Wellenlänge, dass der LIGO-Detektor zu klein ist, sie zu bemerken.

In ein paar Jahren aber will die NASA einen viel größeren Detektor im All installieren, die Laser Interferometer Space Antenna, kurz LISA. Sie besteht aus drei Raumsonden, angeordnet in einem gleichseitigen Dreieck mit fünf Millionen Kilometern Kantenlänge und per Laser verbunden – eine Konstruktion also, wie sie wegen ihrer Größe auf Erden gar nicht möglich wäre. „LISA könnte die Gravitationswellen des Urknalls aufzeichnen“, hofft Martin Bojowald. „Und wenn wir dann diese Wellen mit der Mikrowellen-Hintergrundstrahlung vergleichen, können wir viele Theorien ausschließen.“ Ob die Loop-Theorie, und damit das Modell des Urschwungs, dem Vergleich standhält, wird sich dann zeigen. „Binnen der nächsten 20 Jahre“, so Bojowald, „könnten wir Gewissheit haben.“