Der Mond – Vater des Lebens

Es ist die ultimative Katastrophe. Gegen diesen Meteoriten wirkt jener, der die Dinosaurier auslöschte, wie eine harmlose Knallerbse: Ein riesiger Gesteinsbrocken – ungefähr so groß wie unser Nachbarplanet Mars, rast mit über 30.000 Kilometern pro Stunde auf die Erde zu – und trifft mit voller Wucht. Die Kruste unseres Heimatplaneten zerschellt in einem flammenden Inferno; die Kerne der beiden Himmelskörper verschmelzen zu einem; Unmengen an Trümmern stieben ins All, wo sie zum Teil von der Gravitation des verschmolzenen Planeten wieder eingefangen und auf eine Umlaufbahn gezwungen werden. Wie die Ringe des Saturn umkreisen sie nun die Erde.

 

Hätte es bei diesem Ereignis schon Leben auf unserem Planeten gegeben, es wäre samt und sonders vernichtet worden – keine Mikrobe hätte überlebt. Was für ein Glück, dass die Kollision stattfand, lange bevor die Erde die ersten Organismen hervorbrachte. Der Protoplanet Theia stieß vor etwa 4,5 Milliarden Jahren mit der nicht einmal 100 Millionen Jahre alten Protoerde zusammen – also unserem Heimatplaneten, als er noch glühend heiß war, seine heutige Größe noch nicht erreicht und auch noch keine Oberflächenstrukturen wie Meere und Kontinente ausgeformt hatte.

 

Genau genommen war die kosmische Kollision im Nachhinein betrachtet sogar doppeltes Glück. Denn Forscher sind sich weitgehend einig: Ohne diesen urzeitlichen Unfall hätte sich das Leben auf Mutter Erde in seiner heutigen Form nie entwickeln können. Vielmehr kam dadurch ein für die Evolution entscheidender Akteur ins Spiel: der Mond – Vater des Lebens. Er hielt fortan seine schützende Kugel über alles, was da später kreuchen und fleuchen sollte. Ja, er war es vielleicht sogar, der Mutter Erde bei der Geburt des Lebens half.

 

Die Wissenschaftsgemeinde diskutiert noch, ob Theia die Erde frontal oder doch eher in flachem Winkel traf. Und auch, ob die irdische Magmakugel bereits eine Kruste ausgebildet hatte, ist nicht sicher. „Aber es herrscht inzwischen Konsens, dass es der Impakt eines etwa marsgroßen Körpers war, der zur Bildung des Mondes führte“, sagt der Geophysiker Kai Wünnemann, Leiter der Abteilung für Impakt- und Meteoritenforschung am Museum für Naturkunde in Berlin. Vor allem die sehr ähnliche Zusammensetzung von Mond- und Erdgestein weist daraufhin. Und diverse Computersimulationen, die zeigen, dass eine solche Kollision tatsächlich die Ausformung eines Planetentrabanten dieser Größe zur Folge hat.

 

Demnach dauerte es nach dem Impakt nur einige tausend Jahre, bis die Trümmer auf ihrem Erdorbit zum Mond verklumpten. Zu dieser Zeit kreiste er nicht einmal 50.000 Kilometer entfernt um die Erde (heute sind es rund 384.000). „Der Mond stand zehn- bis zwanzigmal größer am Himmel als heute“, sagt der französische Astrophysiker Bernard Foing von der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, der die SMART-1 Mondmission leitete. Entsprechend stärker war damals auch die wichtigste Kraft, die der Mond auf die Erde ausübt: seine Anziehungskraft. Zwar ist die Gravitation der über 80 Mal schwereren Erde ungleich größer – sie hält damit den Mond auf seiner Umlaufbahn. Doch auch der Mond beeinflusst umgekehrt die Erde: Seine Schwerkraft sorgt für die Gezeiten, die für das Leben auf Erden eine bedeutsame Rolle spielen.

 

Auf dem offenen Meer liegt der Unterschied zwischen Ebbe und Flut, der sogenannte Tidenhub, bei rund 75 Zentimetern; je nach Form der Küste kann er am Meeresrand auch mal zehn Meter übersteigen. Und sogar das Land verformt sich, wenn der Mond daran zieht. Zwar nur um wenige Zentimeter, aber die Ausbeulungen der Kontinente sind messbar.

 

Damals, kurz nach der Entstehung des Mondes, war der Tidenhub jedoch ein ganz anderer: „Er könnte auf dem Meer hunderte Meter oder noch mehr betragen haben“, schreiben die US-Forscher Peter D. Ward und Donald Brownlee, beide an der Universität von Washington, in ihrem Buch „Unsere einsame Erde“. Außerdem drehte sich die Erde viel schneller: Ein Tag dauerte nur acht Stunden. Ebbe und Flut folgten viel rascher aufeinander. Erst mit den Jahrmillionen und Jahrmilliarden wurden die Tage länger, weil die Erdrotation abbremste, und die Tiden wurden kleiner, weil sich der Mond allmählich von der Erde entfernte.

 

Verantwortlich für beide Effekte sind die Gezeiten selbst: Weil die Erde sich beim Rotieren ständig verformt, geht Rotationsenergie über die resultierende Reibung als Wärme verloren; die Drehung wird langsamer (ein Erdentag dauert darum jedes Jahr 17 Mikrosekunden länger). Und die Energie, die dort verloren geht, wird übertragen auf den Bahndrehimpuls des Mondes: Seine Bahn wird größer, er entfernt sich von der Erde pro Jahr um knapp vier Zentimeter.

 

Demzufolge waren die Tiden auch vor rund 3,8 Milliarden Jahren noch erheblich stärker ausgeprägt als heute. Zig Kilometer weit drang das Meerwasser bei Flut ins Land vor – ähnlich vielleicht wie heute auf den weiten Wattflächen um die berühmte französische Insel Mont-Saint-Michel im Ärmelkanal. Entsprechend groß waren die Gebiete, die mal überschwemmt und mal trocken waren – die sogenannten Gezeitenzone. Und eben dort in den Pfützen des Watts könnten zu jener Zeit die ersten primitiven Lebensformen entstanden sein. Zwar wäre es auch denkbar, dass sie dies etwa an heißen Quellen in der Tiefsee taten; vielleicht sind die ersten Organismen auch per Meteorit von einem anderen Planeten auf die Erde gelangt. Doch einiges spricht für eine Genese in der Gezeitenzone.

 

Der entscheidende Schritt muss gewesen sein, dass sich die wichtigsten Bausteine des Lebens, die komplexen Moleküle Desoxyribonukleinsäure (DNS) und Ribonukleinsäure (RNS), aus einer Ansammlung verschiedenster einfacherer Aminosäure-Molekülen zusammensetzten und vervielfältigten. „Durch irgendeinen Effekt müssen sie so konzentriert worden sein, dass die Moleküle polymerisieren, also aus kleinen größere, komplexere bilden konnten“, sagt Chris R. Benn, leitender Astronom der Isaac Newton Teleskop-Gruppe auf der Kanareninsel La Palma. Und dies funktionierte damals wohl nur über zyklisches Zusammensetzen und Wiederaufspalten. „So etwas geht vor allem dann, wenn die Bausteine Wasser verlieren“, sagt Kevin Zahnle, ein Planetologe am NASA Ames Research Center in Kalifornien. „Also war es wohl eine wässrige Moleküllösung, die durch einen natürlichen Prozess konzentriert wurde. Und eine naheliegende Möglichkeit ist da, diese Lösung bei Flut auf einen heißen Stein zu werfen, wovon sich das Wasser wieder zurückzieht oder verdunstet.“ Die Ursuppe wäre demnach regelrecht aufgekocht worden.

 

Der Molekularbiologe Richard Lathe von der schottischen Universität von Edinburgh hat in einer Studie dargelegt, dass die damaligen, sehr schnellen Gezeitenzyklen leicht zur Bildung von Vorläufer-Nukleinsäuren geführt haben könnten. Bei Ebbe zu Paaren verbunden hätten sich die Molekülstränge bei Flut durch die geringere Salzkonzentration wieder getrennt. Ein „selbstreproduzierendes System“ wäre entstanden, aus dem irgendwann die Desoxyribonukleinsäure hervorgegangen ist. „Ohne die Mondgezeiten wäre die Chance für die Bildung von Nukleinsäuren auf der Erde deutlich geringer gewesen“, so Lathe.

 

Nun könnte man einwenden, dass auch die Sonne Gezeiten auf der Erde bewirkt – deshalb gibt es ja Springfluten, wenn Erde, Mond und Sonne auf einer Linie liegen, so dass sich die Schwerkraft von Mond und Sonne addieren. Wozu braucht es dann also die Mondgezeiten? Entscheidend ist an dieser Stelle, dass der Anteil des Mondes an der gesamten Gezeitenkraft wegen seiner Nähe deutlich größer ist: Etwa zwei Drittel zu ein Drittel auf Seiten der Sonne. Sein Anteil ist daher wichtig, denn je stärker die Gezeiten, desto höher quasi der Effekt auf die Ursuppe und höher auch die Chance auf Leben in dieser Suppe. „Es wäre daher fast überraschend, wenn der Mond keinen signifikanten Einfluss auf die Entstehung des Lebens gehabt hätte“, findet Chris Benn.

 

Aus dem gleichen Grund halten einige Astronomen den Jupitermond Europa für den besten Kandidaten im Sonnensystem, ebenfalls Leben entwickelt zu haben, das heute unter seiner dicken Eishülle in einem flüssigen Ozean verborgen wäre. Denn Europa hat durch die enorme Schwerkraft Jupiters gigantische Gezeiten. Höheres Leben wie bei uns erwarten Astronomen dort allerdings nicht – dazu sind die Umweltbedingungen auf Europa zu harsch.

 

Der Mond könnte also das Leben auf Erden mit angestoßen haben – zumindest sehen Forscher das als plausible Möglichkeit. Recht sicher sind sie indes, dass sich dieses Leben ohne den Mond kaum hätte derart weiterentwickeln können – so dass es mit der Zeit sogar intelligente Wesen hervorgebracht hat. Denn der Mond bedeutet für die Erde eine außergewöhnliche Stabilität auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne – und so über Jahrmilliarden hinweg verhältnismäßig stabile Klimaverhältnisse. Zeit und Ruhe für eine lange währende Evolution.

 

Wie jeder in der Schule lernt, steht die Rotationsachse der Erde nicht genau senkrecht zur Ebene ihres Sonnen-Umlaufs, sondern leicht schräg. Der Winkel zwischen ihr und der Senkrechten beträgt rund 23,5 Grad; „Ekliptik“ nennen Astronomen das. Sie ist verantwortlich für die Jahreszeiten: Im Nordsommer ist der Nordpol der Sonne zugeneigt, im Nordwinter der Südpol – die Tage der jeweiligen Hemisphäre sind dann etwas länger und sie bekommt mehr Sonne ab.

 

Diese Erdneigung ist keineswegs konstant. Sie schwankt über die Jahrtausende und Jahrmillionen zwischen etwa 22 und 25 Grad. Das liegt am Einfluss der Gravitation anderer Himmelskörper im Sonnensystem. Jupiter und Saturn etwa nähern sich beim Orbit um die Sonne immer wieder der Erde an. Die Schwankungen der Ekliptik waren im Laufe der Erdhistorie mit verantwortlich für den Wechsel zwischen Warm- und Eiszeiten. Ohne Mond allerdings wären die Klimaveränderungen weitaus heftiger ausgefallen.

 

Der französische Astronom Jacques Laskar vom Bureau des Longitudes in Paris hat einmal simuliert, wie es um die Ekliptik ohne Mond bestellt wäre. Sein Ergebnis: Ohne Mond ging alle Stabilität verloren. Die Erde würde zwar weiter um die Sonne kreisen, aber in einer Taumelbewegung, die das Klima Purzelbäume schlagen ließe: Die Erdneigung würde nun nicht mehr zwischen 22 und 25 Grad, sondern zwischen 0 und 84 Grad pendeln. Schon mit einer Schlagseite ab 60 Grad würden die Sommertemperaturen in Mitteleuropa 60 Grad Celsius übersteigen, denn die Sonne würde ja trotz Erddrehung auch nachts scheinen. Die Winter wären minus 50 Grad kalt – ähnlich wie heute in der Antarktis. An den Polen, die dann jeweils ein ganzes halbes Jahr voll in der Sonne oder im Erdschatten stünden, wären die Extreme noch heftiger. Und alle paar Millionen Jahre würden sich die Verhältnisse wieder komplett ändern. „Unter diesen Umständen wäre es natürlich mehr als fraglich, ob die Ökosysteme lang genug stabil blieben, um höheres Leben hervorzubringen“, sagt der Astronom und Wissenschaftsblogger Florian Freistetter aus Jena. „Zumal es selbst mit dem langfristig recht stabilen Klima der Erde 90 Prozent der Lebenszeit unseres Planeten dauerte, bis sich die Landtiere entwickelt hatten“, bestätigt Geowissenschaftler Peter Ward.

 

Der Mond wirkt also wie ein Anker, der dieses Taumeln verhindert und unser Heimatschiff Erde ruhig hält. „Es ist mehr als wahrscheinlich“, so Freistetter, „dass wir unsere Existenz seinem Vorhandensein zu verdanken haben.“

 

Noch dazu kommt, dass der Mond – beziehungsweise der Theia-Impakt, aus dem er hervorging – womöglich mithalf, der Erde ihr ungewöhnlich starkes Magnetfeld zu verleihen. Dieses spielt ebenfalls eine lebenswichtige Rolle für den Schutz der Erde, weil es die tödliche kosmische Strahlung aus dem All abschirmt. Man vermutet, dass die Extrahitze der Theia-Kollision die Effektivität dieses Schutzmantels enorm gesteigert hat.

 

Andere Gesteinsplaneten hatten dieses Glück nicht. Mars etwa umkreisen nur zwei sehr kleine Monde – wahrscheinlich Asteroiden, die er eingefangen hat. Er ist laut Computersimulationen im Laufe seiner Existenz immer wieder zur Seite gekippt. Allenfalls hartnäckige Mikroben könnten die resultierenden Klimakapriolen bis heute überlebt haben. „Unter den erdähnlichen Planeten ist unser Erde-Mond-System schon etwas ganz Besonderes“, sagt auch Ulrich Christensen, Direktor am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung (MPS). „Kein anderer Planet hat einen im Vergleich zum Mutterkörper so großen Begleiter.“ Mit Ausnahme von Pluto und seinem Mond Charon. Pluto wird aber seit einigen Jahren nicht mehr als Planet angesehen, weil er selbst recht klein ist. Außerdem ist er viel zu weit von der Sonne entfernt und somit von der für Leben nötigen Energiezufuhr abgeschnitten. Er liegt im Gegensatz zu Venus und Mars nicht in der „habitablen Zone“ der Sonne, wie Astronomen sagen.

 

Ob es erdähnliche Planeten mit entsprechendem Mond in der habitablen Zone anderer Sterne gibt, ist unbekannt. In dieser Entfernung lassen sich selbst Planeten bislang nur indirekt nachweisen, für Monde müssten die Beobachtungsmethoden noch deutlich verfeinert werden. Jedenfalls „könnte ein entsprechend großer Mond in der richtigen Entfernung eine Voraussetzung für die Entwicklung von Leben sein“, sagt Florian Freistetter. Auch wenn die Existenz eines solchen Mondes in unserem Fall purer Zufall gewesen sein mag, womöglich gebe es noch andere Mechanismen, die ihn entstehen lassen. „Nach heutiger Meinung sollte das jedenfalls kein reines Glück gewesen sein“, bestätigt Urs Mall, Mondexperte am MPS.

 

Bleibt zu fragen, ob die Ankerwirkung des Mondes nicht allmählich nachlässt, wenn er sich doch jedes Jahr ein Stückchen weiter entfernt. Droht uns demnächst doch ein Kippen der Erdachse? Auch da beruhigen uns die Experten: „Erst in zwei Milliarden Jahren wird der Mond so weit weg sein, dass die Erde kippen könnte“, schreiben Ward und Brownlee in ihrem Buch. Es bleibt also noch ein Weilchen Zeit.

 

Bei allem Lob auf Vater Mond sollte man jedoch eines nicht vergessen: Das Leben auf Erden hat noch einen weiteren Schutzpatron: Jupiter. Der mit 318-facher Erdmasse absolut größte Planet hält das mittlere Sonnensystem seit jeher weitgehend sauber, was die Reste aus der Zeit der Planetenbildung angeht. In den ersten rund 500 Millionen Jahren nach der Entstehung der Planeten rasten neben Theia noch unzählige weitere, teils ebenfalls sehr große Asteroiden kreuz und quer durch die Gegend und bombardierten alle Planeten und Monde. Seither hat das Bombardement stark nachgelassen. Und das ist zu großen Teilen Jupiter zu verdanken, der viele dieser gefährlichen Vagabunden kraft seiner enormen Gravitation entweder eingefangen oder aus dem Sonnensystem geschleudert hat.

 

Ohne Jupiter, so haben Astronomen berechnet, läge die Einschlagrate für einen Asteroiden der Dino-Killer-Klasse (etwa zehn Kilometer Durchmesser) heute nicht bei alle 100 Millionen Jahren – eine Frequenz, die das hochentwickelte Leben auf Erden zwar immer wieder zurückwirft, aber doch dauerhaft gedeihen lässt. Stattdessen wäre ein solcher Einschlag alle 10.000 Jahre zu erwarten. „Auch ohne Jupiter wäre höheres Leben daher unwahrscheinlich“, meinen Peter Ward und Donald Brownlee.

 

Wir können uns also glücklich schätzen, dass nicht nur Vater Mond an unserer Wiege stand und unsere Entwicklung weiterhin wohlwollend begleitet. Auch Großvater Jupiter wacht seit jeher über das Leben auf Erden.

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